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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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jriedensaussichten.

as vergangene Jahr ist für uns Deutsche ein Jahr tiefen Friedens
und infolge dessen ein Jahr gedeihlicher Entwicklung gewesen.
Wird sich das nach zwölf Monaten auch von dem sagen lassen,
in welches wir in diesen Tagen eingetreten sind? Niemand, und
wäre er der scharfblickendste Politiker, sieht vollkommen klar in die
Zukunft, aber die Zeichen der Zeit sind so verheißungsvoll, daß wir wohl nicht
irregehen, wenn wir annehmen, Europa werde auch in dein neuen Jahre vor
einem großen Kriege bewahrt bleiben. Es ist wahr, in Frankreich haben sich die
Revanchebedürftigcn immer noch nicht beruhigt, und in einem Teile der Presse er¬
heben sie von Zeit zu Zeit recht laut und dreist ihre Stimme, aber sie bilden
nicht die Mehrheit, und selbst wenn sie diese bildeten, wäre Frankreich nicht wohl
imstande, einen Angriff auf seine östlichen Nachbarn zu unternehmen, falls es
ihn allein wagen müßte. Es ist ferner wahr, daß wir in Rußland in weiten
Kreisen bittere Feinde haben, daß Mißgunst über unsre Erfolge und panslavistische
Velleitäten dort noch jetzt bis in hohe Schichten der Gesellschaft hinaufreichen,
aber ebenso wahr ist, daß der Kaiser diese Gefühle nicht teilt, und daß der
Minister des Auswärtigen von Anfang seiner Thätigkeit als oberster Rat des
Zaren der Verständigung mit den beiden Mächten Mitteleuropas das Wort
geredet hat, und daß das Verhältnis der russischen Regierung zum deutschen
Reiche und zu Österreich-Ungarn gegenwärtig ein erheblich besseres ist als 1879
und bis in das verflossene Jahr hinein. Kaiser und Minister regieren aber in Peters¬
burg noch und werden aller Wahrscheinlichkeit zufolge noch lange nicht in die
Lage versetzt sein, den uns feindlichen Parteien ihren Willen zu thun. Ernster
Anlaß zu Befürchtungen ist also weder im Westen noch im Osten vorhanden,
.und daß jenen Mächten von deutscher Seite keinerlei Anlaß gegeben werden


Grenzboten I. 1L84. 16


jriedensaussichten.

as vergangene Jahr ist für uns Deutsche ein Jahr tiefen Friedens
und infolge dessen ein Jahr gedeihlicher Entwicklung gewesen.
Wird sich das nach zwölf Monaten auch von dem sagen lassen,
in welches wir in diesen Tagen eingetreten sind? Niemand, und
wäre er der scharfblickendste Politiker, sieht vollkommen klar in die
Zukunft, aber die Zeichen der Zeit sind so verheißungsvoll, daß wir wohl nicht
irregehen, wenn wir annehmen, Europa werde auch in dein neuen Jahre vor
einem großen Kriege bewahrt bleiben. Es ist wahr, in Frankreich haben sich die
Revanchebedürftigcn immer noch nicht beruhigt, und in einem Teile der Presse er¬
heben sie von Zeit zu Zeit recht laut und dreist ihre Stimme, aber sie bilden
nicht die Mehrheit, und selbst wenn sie diese bildeten, wäre Frankreich nicht wohl
imstande, einen Angriff auf seine östlichen Nachbarn zu unternehmen, falls es
ihn allein wagen müßte. Es ist ferner wahr, daß wir in Rußland in weiten
Kreisen bittere Feinde haben, daß Mißgunst über unsre Erfolge und panslavistische
Velleitäten dort noch jetzt bis in hohe Schichten der Gesellschaft hinaufreichen,
aber ebenso wahr ist, daß der Kaiser diese Gefühle nicht teilt, und daß der
Minister des Auswärtigen von Anfang seiner Thätigkeit als oberster Rat des
Zaren der Verständigung mit den beiden Mächten Mitteleuropas das Wort
geredet hat, und daß das Verhältnis der russischen Regierung zum deutschen
Reiche und zu Österreich-Ungarn gegenwärtig ein erheblich besseres ist als 1879
und bis in das verflossene Jahr hinein. Kaiser und Minister regieren aber in Peters¬
burg noch und werden aller Wahrscheinlichkeit zufolge noch lange nicht in die
Lage versetzt sein, den uns feindlichen Parteien ihren Willen zu thun. Ernster
Anlaß zu Befürchtungen ist also weder im Westen noch im Osten vorhanden,
.und daß jenen Mächten von deutscher Seite keinerlei Anlaß gegeben werden


Grenzboten I. 1L84. 16
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[0123] [Abbildung] jriedensaussichten. as vergangene Jahr ist für uns Deutsche ein Jahr tiefen Friedens und infolge dessen ein Jahr gedeihlicher Entwicklung gewesen. Wird sich das nach zwölf Monaten auch von dem sagen lassen, in welches wir in diesen Tagen eingetreten sind? Niemand, und wäre er der scharfblickendste Politiker, sieht vollkommen klar in die Zukunft, aber die Zeichen der Zeit sind so verheißungsvoll, daß wir wohl nicht irregehen, wenn wir annehmen, Europa werde auch in dein neuen Jahre vor einem großen Kriege bewahrt bleiben. Es ist wahr, in Frankreich haben sich die Revanchebedürftigcn immer noch nicht beruhigt, und in einem Teile der Presse er¬ heben sie von Zeit zu Zeit recht laut und dreist ihre Stimme, aber sie bilden nicht die Mehrheit, und selbst wenn sie diese bildeten, wäre Frankreich nicht wohl imstande, einen Angriff auf seine östlichen Nachbarn zu unternehmen, falls es ihn allein wagen müßte. Es ist ferner wahr, daß wir in Rußland in weiten Kreisen bittere Feinde haben, daß Mißgunst über unsre Erfolge und panslavistische Velleitäten dort noch jetzt bis in hohe Schichten der Gesellschaft hinaufreichen, aber ebenso wahr ist, daß der Kaiser diese Gefühle nicht teilt, und daß der Minister des Auswärtigen von Anfang seiner Thätigkeit als oberster Rat des Zaren der Verständigung mit den beiden Mächten Mitteleuropas das Wort geredet hat, und daß das Verhältnis der russischen Regierung zum deutschen Reiche und zu Österreich-Ungarn gegenwärtig ein erheblich besseres ist als 1879 und bis in das verflossene Jahr hinein. Kaiser und Minister regieren aber in Peters¬ burg noch und werden aller Wahrscheinlichkeit zufolge noch lange nicht in die Lage versetzt sein, den uns feindlichen Parteien ihren Willen zu thun. Ernster Anlaß zu Befürchtungen ist also weder im Westen noch im Osten vorhanden, .und daß jenen Mächten von deutscher Seite keinerlei Anlaß gegeben werden Grenzboten I. 1L84. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/123>, abgerufen am 04.05.2024.