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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Auf der Leiter des Glücks.

Dies war der eine Kuß, wenn auch nicht ganz im Sinne des Sprüchleins:


Ein Küschen in Ehren
Kann niemand verwehren --

denn zum Verwehren hatte durchaus die Zeit gefehlt. Ich wäre freilich nicht
ohne seine Hilfe durchgekommen, sagte Lore vor sich hin, indem sie, unter ihrem
Kleiderbündel fast erliegend, inmitten der Vergißmeinnichte ihren Weg fortsetzte.
Sie warf ein paarmal während des Gehens die Lippe auf, als ziehe eine Ver¬
stimmung durch ihre Seele, aber der resignirte Ausdruck ihres Gesichts gewann
bald wieder die Oberhand.




Achtes Uapitel.

Etwas minder in Ehren und etwas leidenschaftlicher ging es bei dem
zweiten Kusse zu. Nach der entgegengesetzten Seite der Movrwiese gab es hinter
den Gärten der Chaussee einen sehr sandigen Kiefernbestand, die sogenannte
van der Eisclsche Schonung, herrenloses Gut, solange ein darüber schwebender
uralter Prozeß nicht zur Erledigung gelangt war. Von Zeit zu Zeit hatten
Phantasten wie Major von Stobbe die van der Eiselsche Schonung in einen
Park umzugestalten unternommen. Man war indessen nie über einige Berbe¬
ritzen- und Hollundcrbvskets hinausgelangt, bis eines Tages die zahlreichen
Nußhäher der Umgegend einen Strauß mit den Dohlen der Nachbarschaft ge¬
rade hier auszufechten unternahmen, einen Strauß, bei welchem die Dohle" den
kürzern zogen. Seitdem -- so wird wenigstens erzählt -- hat man dort im Laufe
der Jahre Hasclnußgcbüsche in großer Üppigkeit aufschießen sehen, wie man
annimmt, eine natürliche Folge der Neigung des Nußhähers, Früchte zu ver¬
scharren, und zugleich ein Zeichen, daß die Niederlage der Dohlen das Schlacht¬
feld definitiv den Siegern überliefert hatte. Genug, niedriges Buschwerk und
lauschige Verstecke gab es in der van der Eiselschen Schonung jetzt in großer
Menge, und da liebeskranke Herzen nach dem Beispiel der Vögel solchen freund¬
lichen Asylen hold sind, so hatte Prinz Ottokar hier so häufig sein Roß ge¬
tummelt, bis Fräulein von Mockritz darin, wie erwähnt, eine immer dringender
werdende Aufforderung erblickte, mit einem Buche oder einer Arbeit in der
Hand auch ihrerseits dort Luft zu schöpfen.

Dies hätte Frau von Mockritz füglich voraussehen können, wäre sie nicht
über die Jahre hinaus gewesen, wo man von den lebhaften Empfindungen des
Jugendalters sich klare Vorstellungen zu macheu weiß; denn Prinz Ottokar
war schön, blühend, geistreich und der Abgott so ziemlich aller jungen Mädchen,
welche dem periodisch ja immer wieder auftauchenden Wahne von dem bereits
allseitigen Verschwinden der Staudcsvorurteile zuneigten. Hermione -- hier
hieß sie ganz so wie im Taufregister -- mußte aber für den Prinzen, der
unendlich vieler Eindrücke fähig war, zunächst den ihm freilich schon oft be-


Auf der Leiter des Glücks.

Dies war der eine Kuß, wenn auch nicht ganz im Sinne des Sprüchleins:


Ein Küschen in Ehren
Kann niemand verwehren —

denn zum Verwehren hatte durchaus die Zeit gefehlt. Ich wäre freilich nicht
ohne seine Hilfe durchgekommen, sagte Lore vor sich hin, indem sie, unter ihrem
Kleiderbündel fast erliegend, inmitten der Vergißmeinnichte ihren Weg fortsetzte.
Sie warf ein paarmal während des Gehens die Lippe auf, als ziehe eine Ver¬
stimmung durch ihre Seele, aber der resignirte Ausdruck ihres Gesichts gewann
bald wieder die Oberhand.




Achtes Uapitel.

Etwas minder in Ehren und etwas leidenschaftlicher ging es bei dem
zweiten Kusse zu. Nach der entgegengesetzten Seite der Movrwiese gab es hinter
den Gärten der Chaussee einen sehr sandigen Kiefernbestand, die sogenannte
van der Eisclsche Schonung, herrenloses Gut, solange ein darüber schwebender
uralter Prozeß nicht zur Erledigung gelangt war. Von Zeit zu Zeit hatten
Phantasten wie Major von Stobbe die van der Eiselsche Schonung in einen
Park umzugestalten unternommen. Man war indessen nie über einige Berbe¬
ritzen- und Hollundcrbvskets hinausgelangt, bis eines Tages die zahlreichen
Nußhäher der Umgegend einen Strauß mit den Dohlen der Nachbarschaft ge¬
rade hier auszufechten unternahmen, einen Strauß, bei welchem die Dohle» den
kürzern zogen. Seitdem — so wird wenigstens erzählt — hat man dort im Laufe
der Jahre Hasclnußgcbüsche in großer Üppigkeit aufschießen sehen, wie man
annimmt, eine natürliche Folge der Neigung des Nußhähers, Früchte zu ver¬
scharren, und zugleich ein Zeichen, daß die Niederlage der Dohlen das Schlacht¬
feld definitiv den Siegern überliefert hatte. Genug, niedriges Buschwerk und
lauschige Verstecke gab es in der van der Eiselschen Schonung jetzt in großer
Menge, und da liebeskranke Herzen nach dem Beispiel der Vögel solchen freund¬
lichen Asylen hold sind, so hatte Prinz Ottokar hier so häufig sein Roß ge¬
tummelt, bis Fräulein von Mockritz darin, wie erwähnt, eine immer dringender
werdende Aufforderung erblickte, mit einem Buche oder einer Arbeit in der
Hand auch ihrerseits dort Luft zu schöpfen.

Dies hätte Frau von Mockritz füglich voraussehen können, wäre sie nicht
über die Jahre hinaus gewesen, wo man von den lebhaften Empfindungen des
Jugendalters sich klare Vorstellungen zu macheu weiß; denn Prinz Ottokar
war schön, blühend, geistreich und der Abgott so ziemlich aller jungen Mädchen,
welche dem periodisch ja immer wieder auftauchenden Wahne von dem bereits
allseitigen Verschwinden der Staudcsvorurteile zuneigten. Hermione — hier
hieß sie ganz so wie im Taufregister — mußte aber für den Prinzen, der
unendlich vieler Eindrücke fähig war, zunächst den ihm freilich schon oft be-


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[0165] Auf der Leiter des Glücks. Dies war der eine Kuß, wenn auch nicht ganz im Sinne des Sprüchleins: Ein Küschen in Ehren Kann niemand verwehren — denn zum Verwehren hatte durchaus die Zeit gefehlt. Ich wäre freilich nicht ohne seine Hilfe durchgekommen, sagte Lore vor sich hin, indem sie, unter ihrem Kleiderbündel fast erliegend, inmitten der Vergißmeinnichte ihren Weg fortsetzte. Sie warf ein paarmal während des Gehens die Lippe auf, als ziehe eine Ver¬ stimmung durch ihre Seele, aber der resignirte Ausdruck ihres Gesichts gewann bald wieder die Oberhand. Achtes Uapitel. Etwas minder in Ehren und etwas leidenschaftlicher ging es bei dem zweiten Kusse zu. Nach der entgegengesetzten Seite der Movrwiese gab es hinter den Gärten der Chaussee einen sehr sandigen Kiefernbestand, die sogenannte van der Eisclsche Schonung, herrenloses Gut, solange ein darüber schwebender uralter Prozeß nicht zur Erledigung gelangt war. Von Zeit zu Zeit hatten Phantasten wie Major von Stobbe die van der Eiselsche Schonung in einen Park umzugestalten unternommen. Man war indessen nie über einige Berbe¬ ritzen- und Hollundcrbvskets hinausgelangt, bis eines Tages die zahlreichen Nußhäher der Umgegend einen Strauß mit den Dohlen der Nachbarschaft ge¬ rade hier auszufechten unternahmen, einen Strauß, bei welchem die Dohle» den kürzern zogen. Seitdem — so wird wenigstens erzählt — hat man dort im Laufe der Jahre Hasclnußgcbüsche in großer Üppigkeit aufschießen sehen, wie man annimmt, eine natürliche Folge der Neigung des Nußhähers, Früchte zu ver¬ scharren, und zugleich ein Zeichen, daß die Niederlage der Dohlen das Schlacht¬ feld definitiv den Siegern überliefert hatte. Genug, niedriges Buschwerk und lauschige Verstecke gab es in der van der Eiselschen Schonung jetzt in großer Menge, und da liebeskranke Herzen nach dem Beispiel der Vögel solchen freund¬ lichen Asylen hold sind, so hatte Prinz Ottokar hier so häufig sein Roß ge¬ tummelt, bis Fräulein von Mockritz darin, wie erwähnt, eine immer dringender werdende Aufforderung erblickte, mit einem Buche oder einer Arbeit in der Hand auch ihrerseits dort Luft zu schöpfen. Dies hätte Frau von Mockritz füglich voraussehen können, wäre sie nicht über die Jahre hinaus gewesen, wo man von den lebhaften Empfindungen des Jugendalters sich klare Vorstellungen zu macheu weiß; denn Prinz Ottokar war schön, blühend, geistreich und der Abgott so ziemlich aller jungen Mädchen, welche dem periodisch ja immer wieder auftauchenden Wahne von dem bereits allseitigen Verschwinden der Staudcsvorurteile zuneigten. Hermione — hier hieß sie ganz so wie im Taufregister — mußte aber für den Prinzen, der unendlich vieler Eindrücke fähig war, zunächst den ihm freilich schon oft be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/165>, abgerufen am 04.05.2024.