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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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>el dem Aufsehen, welches die Verbindung der bisherigen Sezes-
sionisten mit den Fortschrittlern hervorgerufen hat, dürfte es sich
lohnen, einmal einen etwas tiefern Blick in das innere Getriebe der
parlamentarischen Fraktionen zu werfen. Wir werden dadurch
I vielleicht auch über die Bedeutung jenes überraschenden Ereig¬
nisses größere Klarheit gewinnen.

Die Fraktionen der Parlamente haben ihre natürliche Grundlage in dem
von den meisten Parlamentsmitgliedern gefühlten Bedürfnisse, nicht völlig un¬
vorbereitet in die allgemeine Verhandlung wichtiger und schwieriger Angelegen¬
heiten einzutreten; vielmehr mit demjenigen Teil der Kollegen, mit welchen sie
in ihrer Gesamtrichtung sich eins wissen, über solche Angelegenheiten im voraus
die Ansichten auszutauschen, um dadurch sich gegenseitig zu belehren und, wenn
möglich, ein übereinstimmendes Verhalten zu erzielen. Führt dieser Zweck zu
regelmäßigen Versammlungen, so ist es auch natürlich, daß die Parteigenossen
sich eine gewisse Organisation geben, daß sie einen Vorstand wählen, welcher die
Versammlungen anordnet, die Geschäfte darin leitet u. s. w. Beschränkte sich
nun hierauf das Wesen der Fraktionen, so wäre alles ganz gut. Man käme
zusammen, spräche vorläufig über die Sache und erwartete dann die allgemeine
Verhandlung, bei welcher jeder nach seiner aus allem Verhandelten gewonnenen
Überzeugung seine Stimme abgeben könnte. Das ganze parlamentarische Leben
ist aber nicht zu verstehen, wenn man das Parlament lediglich als einen Kampf¬
platz ansieht, auf welchem öffentliche Interessen den Gegenstand des Streites
bilden. Es ist zugleich die Arena, in welcher der persönliche Ehrgeiz einer
gewissen Anzahl von Männern gegen einander ringt. Dieses Element unsers
parlamentarischen Lebens hat sich auch des Fraktionswesens bemächtigt. Die
Fraktion ist das Podium, auf welchem der strebsame Parlamentarier seine Stel¬
lung nimmt; und je höher und fester er dieses Podium unter sich aufzubauen
vermag, umso höher und fester ist auch seine Stellung. Demgemäß gilt die
Fraktion nicht bloß als eine Institution, um sich gegenseitig zu unterrichten,
sondern sie ist auch ausgebildet als das Mittel der Beherrschung der großen
Masse der Parlamentarier durch eine kleine Anzahl derselben. Es giebt ohne
Zweifel eine Menge Parlamentarier, welche gern auf jedes selbständige Denken
verzichten und sich ganz behaglich fühlen, wenn sie vertrauensvoll fremder Füh¬
rung sich überlassen können, Diese Masse zu gewinnen und als sichern Schweif
hinter sich herzuziehen, dazu bietet die Fraktion das geeignete Mittel. Nun


Grenzboten I, 1884, 84
Die parlamentarischen Fraktionen»

>el dem Aufsehen, welches die Verbindung der bisherigen Sezes-
sionisten mit den Fortschrittlern hervorgerufen hat, dürfte es sich
lohnen, einmal einen etwas tiefern Blick in das innere Getriebe der
parlamentarischen Fraktionen zu werfen. Wir werden dadurch
I vielleicht auch über die Bedeutung jenes überraschenden Ereig¬
nisses größere Klarheit gewinnen.

Die Fraktionen der Parlamente haben ihre natürliche Grundlage in dem
von den meisten Parlamentsmitgliedern gefühlten Bedürfnisse, nicht völlig un¬
vorbereitet in die allgemeine Verhandlung wichtiger und schwieriger Angelegen¬
heiten einzutreten; vielmehr mit demjenigen Teil der Kollegen, mit welchen sie
in ihrer Gesamtrichtung sich eins wissen, über solche Angelegenheiten im voraus
die Ansichten auszutauschen, um dadurch sich gegenseitig zu belehren und, wenn
möglich, ein übereinstimmendes Verhalten zu erzielen. Führt dieser Zweck zu
regelmäßigen Versammlungen, so ist es auch natürlich, daß die Parteigenossen
sich eine gewisse Organisation geben, daß sie einen Vorstand wählen, welcher die
Versammlungen anordnet, die Geschäfte darin leitet u. s. w. Beschränkte sich
nun hierauf das Wesen der Fraktionen, so wäre alles ganz gut. Man käme
zusammen, spräche vorläufig über die Sache und erwartete dann die allgemeine
Verhandlung, bei welcher jeder nach seiner aus allem Verhandelten gewonnenen
Überzeugung seine Stimme abgeben könnte. Das ganze parlamentarische Leben
ist aber nicht zu verstehen, wenn man das Parlament lediglich als einen Kampf¬
platz ansieht, auf welchem öffentliche Interessen den Gegenstand des Streites
bilden. Es ist zugleich die Arena, in welcher der persönliche Ehrgeiz einer
gewissen Anzahl von Männern gegen einander ringt. Dieses Element unsers
parlamentarischen Lebens hat sich auch des Fraktionswesens bemächtigt. Die
Fraktion ist das Podium, auf welchem der strebsame Parlamentarier seine Stel¬
lung nimmt; und je höher und fester er dieses Podium unter sich aufzubauen
vermag, umso höher und fester ist auch seine Stellung. Demgemäß gilt die
Fraktion nicht bloß als eine Institution, um sich gegenseitig zu unterrichten,
sondern sie ist auch ausgebildet als das Mittel der Beherrschung der großen
Masse der Parlamentarier durch eine kleine Anzahl derselben. Es giebt ohne
Zweifel eine Menge Parlamentarier, welche gern auf jedes selbständige Denken
verzichten und sich ganz behaglich fühlen, wenn sie vertrauensvoll fremder Füh¬
rung sich überlassen können, Diese Masse zu gewinnen und als sichern Schweif
hinter sich herzuziehen, dazu bietet die Fraktion das geeignete Mittel. Nun


Grenzboten I, 1884, 84
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[0675] Die parlamentarischen Fraktionen» >el dem Aufsehen, welches die Verbindung der bisherigen Sezes- sionisten mit den Fortschrittlern hervorgerufen hat, dürfte es sich lohnen, einmal einen etwas tiefern Blick in das innere Getriebe der parlamentarischen Fraktionen zu werfen. Wir werden dadurch I vielleicht auch über die Bedeutung jenes überraschenden Ereig¬ nisses größere Klarheit gewinnen. Die Fraktionen der Parlamente haben ihre natürliche Grundlage in dem von den meisten Parlamentsmitgliedern gefühlten Bedürfnisse, nicht völlig un¬ vorbereitet in die allgemeine Verhandlung wichtiger und schwieriger Angelegen¬ heiten einzutreten; vielmehr mit demjenigen Teil der Kollegen, mit welchen sie in ihrer Gesamtrichtung sich eins wissen, über solche Angelegenheiten im voraus die Ansichten auszutauschen, um dadurch sich gegenseitig zu belehren und, wenn möglich, ein übereinstimmendes Verhalten zu erzielen. Führt dieser Zweck zu regelmäßigen Versammlungen, so ist es auch natürlich, daß die Parteigenossen sich eine gewisse Organisation geben, daß sie einen Vorstand wählen, welcher die Versammlungen anordnet, die Geschäfte darin leitet u. s. w. Beschränkte sich nun hierauf das Wesen der Fraktionen, so wäre alles ganz gut. Man käme zusammen, spräche vorläufig über die Sache und erwartete dann die allgemeine Verhandlung, bei welcher jeder nach seiner aus allem Verhandelten gewonnenen Überzeugung seine Stimme abgeben könnte. Das ganze parlamentarische Leben ist aber nicht zu verstehen, wenn man das Parlament lediglich als einen Kampf¬ platz ansieht, auf welchem öffentliche Interessen den Gegenstand des Streites bilden. Es ist zugleich die Arena, in welcher der persönliche Ehrgeiz einer gewissen Anzahl von Männern gegen einander ringt. Dieses Element unsers parlamentarischen Lebens hat sich auch des Fraktionswesens bemächtigt. Die Fraktion ist das Podium, auf welchem der strebsame Parlamentarier seine Stel¬ lung nimmt; und je höher und fester er dieses Podium unter sich aufzubauen vermag, umso höher und fester ist auch seine Stellung. Demgemäß gilt die Fraktion nicht bloß als eine Institution, um sich gegenseitig zu unterrichten, sondern sie ist auch ausgebildet als das Mittel der Beherrschung der großen Masse der Parlamentarier durch eine kleine Anzahl derselben. Es giebt ohne Zweifel eine Menge Parlamentarier, welche gern auf jedes selbständige Denken verzichten und sich ganz behaglich fühlen, wenn sie vertrauensvoll fremder Füh¬ rung sich überlassen können, Diese Masse zu gewinnen und als sichern Schweif hinter sich herzuziehen, dazu bietet die Fraktion das geeignete Mittel. Nun Grenzboten I, 1884, 84

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/675>, abgerufen am 04.05.2024.