Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

Im Frühjahre 1832 bricht endlich jenes schmerzliche Leiden aus, das nach
anderthalbjährigem Siechtum den Tod Turgenjews herbeiführte. Die Pariser
Ärzte benannten es mit den verschiedensten Namen: noviÄAiö Wrämlg'iano
g'0net"zu8<z, nevi'kÜZ'lo Ltonmeals g'oiMous", mrssin^ xvetornlis norvosa. u. s. w.
Turgenjew schreibt über das Wesen der Krankheit bei ihrem ersten Auftreten:
"Dieses alberne Ding besteht darin, daß, wenn man ruhig liegt, man durchaus
nichts fühlt; will man aber gerade stehen oder gar umhergehen -- vom
Treppensteigen rede ich garnicht -- so spürt man auf einmal in den Schultern,
dann im Rücken und in der Brust unerträgliche Schmerzen, Atemnot tritt
ein u. s. w." Von Tag zu Tag wurden diese Beschwerden schlimmer; uur mit
Hilfe des Morphiums vermochte der Kranke Ruhe zu finden. Im Juni 1882
verordnet ihm ein Pariser Homöopath eine Milchkur, für welche sich auch der
Petersburger Arzt Bcrtenson, der Turgenjew in Paris besucht, entscheidet.
Dieselbe scheint gut anzuschlagen; der Kranke genießt nichts weiter als täglich
etwa zwölf Glas Milch, und diese Kost sagt ihm bald so zu, daß er gegen
Fleisch und Wein Widerwillen empfindet. Von Stehen und Gehen ist freilich
keine Rede; Turgenjew lebt "wie eine Auster": "Ich rühre mich nicht vom
Platze, heißt es in den Briefen, ich schreibe, lese, genieße nichts als Milch,
schlafe acht Stunden in einem Zuge, nehme keine Medizin und befinde mich bei
alledem ganz wohl. Ein wahres Mvlluskenlebcn!"

Eine endgiltige Besserung indessen will nicht eintreten, Turgenjew beginnt
sich selber als "ausgestrichen" zu betrachten. Im folgenden Winter übersteht
der Kranke eine schwierige Operation: ein pflnnmengroßes Ncnrom wird ihm
aus dem Unterleibe entfernt. Doch die erwartete Genesung tritt nicht ein, die
Krankheit verschlimmert sich zusehends. Die rechte Seite ist zeitweise gelähmt,
ein zahuschmcrzartigcs Bohren und Reißen durchzieht deu Körper. Die Briefe
an die Freunde in der Heimat, immer kürzer und kürzer, müssen diktirt werdeu,
nur die schwach mit Bleistift geschriebene Unterschrift liefert den Beweis, daß
Iwan Turgenjew noch unter den Lebenden weilt. Am 2. September 1883
hat er ihre Reihen verlassen.


2.

Turgenjew war einer der edelsten Menschen und trotz seiner europäischen
Überzeugungen el" echter Russe. Die "breite Natur" des Großrussen hatte in
ihm ihre ideale Verkörperung gefunden. Behäbige Gutmütigkeit und Gcmüts-
wcichheit neben einer feinen Ironie, Bescheidenheit neben Selbstbewußtsein, ein
wenig Trägheit neben sehr viel Geduld, Frende am Leben neben einer gewissen
Wehmut, die sich nnter Umständen bis zu düsterm Pessimismus steigert, aber
immer wieder durch den farao^ sinM, den gesunden Menschenverstand aus
das richtige Maß zurückgeführt wird das sind die Eigentümlichkeiten der
russischen Art, die wir in Turgenjew wiederfinden. Dieses Charakterbild tritt


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

Im Frühjahre 1832 bricht endlich jenes schmerzliche Leiden aus, das nach
anderthalbjährigem Siechtum den Tod Turgenjews herbeiführte. Die Pariser
Ärzte benannten es mit den verschiedensten Namen: noviÄAiö Wrämlg'iano
g'0net«zu8<z, nevi'kÜZ'lo Ltonmeals g'oiMous», mrssin^ xvetornlis norvosa. u. s. w.
Turgenjew schreibt über das Wesen der Krankheit bei ihrem ersten Auftreten:
„Dieses alberne Ding besteht darin, daß, wenn man ruhig liegt, man durchaus
nichts fühlt; will man aber gerade stehen oder gar umhergehen — vom
Treppensteigen rede ich garnicht — so spürt man auf einmal in den Schultern,
dann im Rücken und in der Brust unerträgliche Schmerzen, Atemnot tritt
ein u. s. w." Von Tag zu Tag wurden diese Beschwerden schlimmer; uur mit
Hilfe des Morphiums vermochte der Kranke Ruhe zu finden. Im Juni 1882
verordnet ihm ein Pariser Homöopath eine Milchkur, für welche sich auch der
Petersburger Arzt Bcrtenson, der Turgenjew in Paris besucht, entscheidet.
Dieselbe scheint gut anzuschlagen; der Kranke genießt nichts weiter als täglich
etwa zwölf Glas Milch, und diese Kost sagt ihm bald so zu, daß er gegen
Fleisch und Wein Widerwillen empfindet. Von Stehen und Gehen ist freilich
keine Rede; Turgenjew lebt „wie eine Auster": „Ich rühre mich nicht vom
Platze, heißt es in den Briefen, ich schreibe, lese, genieße nichts als Milch,
schlafe acht Stunden in einem Zuge, nehme keine Medizin und befinde mich bei
alledem ganz wohl. Ein wahres Mvlluskenlebcn!"

Eine endgiltige Besserung indessen will nicht eintreten, Turgenjew beginnt
sich selber als „ausgestrichen" zu betrachten. Im folgenden Winter übersteht
der Kranke eine schwierige Operation: ein pflnnmengroßes Ncnrom wird ihm
aus dem Unterleibe entfernt. Doch die erwartete Genesung tritt nicht ein, die
Krankheit verschlimmert sich zusehends. Die rechte Seite ist zeitweise gelähmt,
ein zahuschmcrzartigcs Bohren und Reißen durchzieht deu Körper. Die Briefe
an die Freunde in der Heimat, immer kürzer und kürzer, müssen diktirt werdeu,
nur die schwach mit Bleistift geschriebene Unterschrift liefert den Beweis, daß
Iwan Turgenjew noch unter den Lebenden weilt. Am 2. September 1883
hat er ihre Reihen verlassen.


2.

Turgenjew war einer der edelsten Menschen und trotz seiner europäischen
Überzeugungen el» echter Russe. Die „breite Natur" des Großrussen hatte in
ihm ihre ideale Verkörperung gefunden. Behäbige Gutmütigkeit und Gcmüts-
wcichheit neben einer feinen Ironie, Bescheidenheit neben Selbstbewußtsein, ein
wenig Trägheit neben sehr viel Geduld, Frende am Leben neben einer gewissen
Wehmut, die sich nnter Umständen bis zu düsterm Pessimismus steigert, aber
immer wieder durch den farao^ sinM, den gesunden Menschenverstand aus
das richtige Maß zurückgeführt wird das sind die Eigentümlichkeiten der
russischen Art, die wir in Turgenjew wiederfinden. Dieses Charakterbild tritt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195748"/>
            <fw type="header" place="top"> Iwan Turgenjew in seinen Briefen.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1227" prev="#ID_1226"> Im Frühjahre 1832 bricht endlich jenes schmerzliche Leiden aus, das nach<lb/>
anderthalbjährigem Siechtum den Tod Turgenjews herbeiführte. Die Pariser<lb/>
Ärzte benannten es mit den verschiedensten Namen: noviÄAiö Wrämlg'iano<lb/>
g'0net«zu8&lt;z, nevi'kÜZ'lo Ltonmeals g'oiMous», mrssin^ xvetornlis norvosa. u. s. w.<lb/>
Turgenjew schreibt über das Wesen der Krankheit bei ihrem ersten Auftreten:<lb/>
&#x201E;Dieses alberne Ding besteht darin, daß, wenn man ruhig liegt, man durchaus<lb/>
nichts fühlt; will man aber gerade stehen oder gar umhergehen &#x2014; vom<lb/>
Treppensteigen rede ich garnicht &#x2014; so spürt man auf einmal in den Schultern,<lb/>
dann im Rücken und in der Brust unerträgliche Schmerzen, Atemnot tritt<lb/>
ein u. s. w." Von Tag zu Tag wurden diese Beschwerden schlimmer; uur mit<lb/>
Hilfe des Morphiums vermochte der Kranke Ruhe zu finden. Im Juni 1882<lb/>
verordnet ihm ein Pariser Homöopath eine Milchkur, für welche sich auch der<lb/>
Petersburger Arzt Bcrtenson, der Turgenjew in Paris besucht, entscheidet.<lb/>
Dieselbe scheint gut anzuschlagen; der Kranke genießt nichts weiter als täglich<lb/>
etwa zwölf Glas Milch, und diese Kost sagt ihm bald so zu, daß er gegen<lb/>
Fleisch und Wein Widerwillen empfindet. Von Stehen und Gehen ist freilich<lb/>
keine Rede; Turgenjew lebt &#x201E;wie eine Auster": &#x201E;Ich rühre mich nicht vom<lb/>
Platze, heißt es in den Briefen, ich schreibe, lese, genieße nichts als Milch,<lb/>
schlafe acht Stunden in einem Zuge, nehme keine Medizin und befinde mich bei<lb/>
alledem ganz wohl.  Ein wahres Mvlluskenlebcn!"</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1228"> Eine endgiltige Besserung indessen will nicht eintreten, Turgenjew beginnt<lb/>
sich selber als &#x201E;ausgestrichen" zu betrachten. Im folgenden Winter übersteht<lb/>
der Kranke eine schwierige Operation: ein pflnnmengroßes Ncnrom wird ihm<lb/>
aus dem Unterleibe entfernt. Doch die erwartete Genesung tritt nicht ein, die<lb/>
Krankheit verschlimmert sich zusehends. Die rechte Seite ist zeitweise gelähmt,<lb/>
ein zahuschmcrzartigcs Bohren und Reißen durchzieht deu Körper. Die Briefe<lb/>
an die Freunde in der Heimat, immer kürzer und kürzer, müssen diktirt werdeu,<lb/>
nur die schwach mit Bleistift geschriebene Unterschrift liefert den Beweis, daß<lb/>
Iwan Turgenjew noch unter den Lebenden weilt. Am 2. September 1883<lb/>
hat er ihre Reihen verlassen.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 2.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1229" next="#ID_1230"> Turgenjew war einer der edelsten Menschen und trotz seiner europäischen<lb/>
Überzeugungen el» echter Russe. Die &#x201E;breite Natur" des Großrussen hatte in<lb/>
ihm ihre ideale Verkörperung gefunden. Behäbige Gutmütigkeit und Gcmüts-<lb/>
wcichheit neben einer feinen Ironie, Bescheidenheit neben Selbstbewußtsein, ein<lb/>
wenig Trägheit neben sehr viel Geduld, Frende am Leben neben einer gewissen<lb/>
Wehmut, die sich nnter Umständen bis zu düsterm Pessimismus steigert, aber<lb/>
immer wieder durch den farao^ sinM, den gesunden Menschenverstand aus<lb/>
das richtige Maß zurückgeführt wird das sind die Eigentümlichkeiten der<lb/>
russischen Art, die wir in Turgenjew wiederfinden. Dieses Charakterbild tritt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. Im Frühjahre 1832 bricht endlich jenes schmerzliche Leiden aus, das nach anderthalbjährigem Siechtum den Tod Turgenjews herbeiführte. Die Pariser Ärzte benannten es mit den verschiedensten Namen: noviÄAiö Wrämlg'iano g'0net«zu8<z, nevi'kÜZ'lo Ltonmeals g'oiMous», mrssin^ xvetornlis norvosa. u. s. w. Turgenjew schreibt über das Wesen der Krankheit bei ihrem ersten Auftreten: „Dieses alberne Ding besteht darin, daß, wenn man ruhig liegt, man durchaus nichts fühlt; will man aber gerade stehen oder gar umhergehen — vom Treppensteigen rede ich garnicht — so spürt man auf einmal in den Schultern, dann im Rücken und in der Brust unerträgliche Schmerzen, Atemnot tritt ein u. s. w." Von Tag zu Tag wurden diese Beschwerden schlimmer; uur mit Hilfe des Morphiums vermochte der Kranke Ruhe zu finden. Im Juni 1882 verordnet ihm ein Pariser Homöopath eine Milchkur, für welche sich auch der Petersburger Arzt Bcrtenson, der Turgenjew in Paris besucht, entscheidet. Dieselbe scheint gut anzuschlagen; der Kranke genießt nichts weiter als täglich etwa zwölf Glas Milch, und diese Kost sagt ihm bald so zu, daß er gegen Fleisch und Wein Widerwillen empfindet. Von Stehen und Gehen ist freilich keine Rede; Turgenjew lebt „wie eine Auster": „Ich rühre mich nicht vom Platze, heißt es in den Briefen, ich schreibe, lese, genieße nichts als Milch, schlafe acht Stunden in einem Zuge, nehme keine Medizin und befinde mich bei alledem ganz wohl. Ein wahres Mvlluskenlebcn!" Eine endgiltige Besserung indessen will nicht eintreten, Turgenjew beginnt sich selber als „ausgestrichen" zu betrachten. Im folgenden Winter übersteht der Kranke eine schwierige Operation: ein pflnnmengroßes Ncnrom wird ihm aus dem Unterleibe entfernt. Doch die erwartete Genesung tritt nicht ein, die Krankheit verschlimmert sich zusehends. Die rechte Seite ist zeitweise gelähmt, ein zahuschmcrzartigcs Bohren und Reißen durchzieht deu Körper. Die Briefe an die Freunde in der Heimat, immer kürzer und kürzer, müssen diktirt werdeu, nur die schwach mit Bleistift geschriebene Unterschrift liefert den Beweis, daß Iwan Turgenjew noch unter den Lebenden weilt. Am 2. September 1883 hat er ihre Reihen verlassen. 2. Turgenjew war einer der edelsten Menschen und trotz seiner europäischen Überzeugungen el» echter Russe. Die „breite Natur" des Großrussen hatte in ihm ihre ideale Verkörperung gefunden. Behäbige Gutmütigkeit und Gcmüts- wcichheit neben einer feinen Ironie, Bescheidenheit neben Selbstbewußtsein, ein wenig Trägheit neben sehr viel Geduld, Frende am Leben neben einer gewissen Wehmut, die sich nnter Umständen bis zu düsterm Pessimismus steigert, aber immer wieder durch den farao^ sinM, den gesunden Menschenverstand aus das richtige Maß zurückgeführt wird das sind die Eigentümlichkeiten der russischen Art, die wir in Turgenjew wiederfinden. Dieses Charakterbild tritt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/359>, abgerufen am 04.05.2024.