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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten,
10.

Wischer Thür und Angel drängt es mich noch einmal, das Wort
zu ergreifen, nicht allein, um rasch noch die Zahl meiner Thaten
um eine Nummer zu vermehren, sondern zugleich gewissen Äuße¬
rungen des Pessimismus entgegenzutreten. Es haben sich Klagen
über die Unfruchtbarkeit der diesmaligen parlamentarischen Ver¬
handlungen erhoben. Meine Herren, das ist eine vontiMietio in Aäjsow, wie
wir Lateiner sagen. Parlamentarische Verhandlungen können niemals unfruchtbar
sein, weil sie selbst Frucht sind, und zwar die höchste und beste, die es geben
kann. "Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort" --
die Wahrheit dieser Behauptung hat sich im Zeitalter des Strumpsstrickens
hinlänglich erprobt; wie groß muß erst das Erträgnis sein, wenn die Rede
zugleich Arbeit ist. Möge sich deshalb niemand durch die Thatsache verstimmen
oder entmutigen lassen, daß die Sehnsucht des deutschen Volkes, seine Geschicke
in die Hände eines Ministeriums Windthorst-Richter-Singer-Mayer-von der
Decken-......sti gelegt zu sehen, auch diesmal wieder unerfüllt geblieben ist.
Das wird ja endlich doch geschehen müssen, und -- wenn nicht -- nun, dann
kann die Nation wenigstens die stenographischen Berichte getrost nach Hause
tragen als einen Schatz, der über alle Schätze geht! Wenn sich ein Saal kon-
struiren ließe, groß genug und zugleich akustisch, sodaß alle Volljährigen sich
zu einer Versammlung vereinigen und Reden halten könnten, so wären wir auf
einmal aller Sorgen enthoben. Jeder bekäme Diäten, sodaß er keiner andern
Arbeit nachzugehen brauchte, jeder hätte eine zusagende Beschäftigung, regel¬
mäßige, wenn auch bescheidne Einnahme, alle Aufregungen, Ärgernisse und
Kosten der Wahlen fielen weg, niemand brauchte Wahlpolitik zu treiben, jeder
wäre immun und -- ich wette darauf, zufrieden. Also nicht die Staatskünstler
sollten sich fürder die Köpfe zerbrechen, an der Mechanik ist jetzt die Reihe!

Aber ich will mich nicht in rosige Zukunftsbilder versenken, die Gegen¬
wart ist ja auch schön. Gerade die letzten Wochen haben wieder bewiesen, daß
wir stetig fortschreiten -- zurückschreiten, wenn Sie wollen, zum Urchristentum
und darüber hinaus. Mehr und mehr entledigen wir uns der aus barbarischen
Zeiten stammenden Vorurteile und Engherzigkeiten. Jener philisterhafte Glocken¬
gießer, welchen ich mir eingangs meiner heutigen Rede zu zitiren erlaubte, hielt
noch für das teuerste der Bande den Trieb zum Vaterlande. Wir aber haben


Grenzboten II. 1386. 54
Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten,
10.

Wischer Thür und Angel drängt es mich noch einmal, das Wort
zu ergreifen, nicht allein, um rasch noch die Zahl meiner Thaten
um eine Nummer zu vermehren, sondern zugleich gewissen Äuße¬
rungen des Pessimismus entgegenzutreten. Es haben sich Klagen
über die Unfruchtbarkeit der diesmaligen parlamentarischen Ver¬
handlungen erhoben. Meine Herren, das ist eine vontiMietio in Aäjsow, wie
wir Lateiner sagen. Parlamentarische Verhandlungen können niemals unfruchtbar
sein, weil sie selbst Frucht sind, und zwar die höchste und beste, die es geben
kann. „Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort" —
die Wahrheit dieser Behauptung hat sich im Zeitalter des Strumpsstrickens
hinlänglich erprobt; wie groß muß erst das Erträgnis sein, wenn die Rede
zugleich Arbeit ist. Möge sich deshalb niemand durch die Thatsache verstimmen
oder entmutigen lassen, daß die Sehnsucht des deutschen Volkes, seine Geschicke
in die Hände eines Ministeriums Windthorst-Richter-Singer-Mayer-von der
Decken-......sti gelegt zu sehen, auch diesmal wieder unerfüllt geblieben ist.
Das wird ja endlich doch geschehen müssen, und — wenn nicht — nun, dann
kann die Nation wenigstens die stenographischen Berichte getrost nach Hause
tragen als einen Schatz, der über alle Schätze geht! Wenn sich ein Saal kon-
struiren ließe, groß genug und zugleich akustisch, sodaß alle Volljährigen sich
zu einer Versammlung vereinigen und Reden halten könnten, so wären wir auf
einmal aller Sorgen enthoben. Jeder bekäme Diäten, sodaß er keiner andern
Arbeit nachzugehen brauchte, jeder hätte eine zusagende Beschäftigung, regel¬
mäßige, wenn auch bescheidne Einnahme, alle Aufregungen, Ärgernisse und
Kosten der Wahlen fielen weg, niemand brauchte Wahlpolitik zu treiben, jeder
wäre immun und — ich wette darauf, zufrieden. Also nicht die Staatskünstler
sollten sich fürder die Köpfe zerbrechen, an der Mechanik ist jetzt die Reihe!

Aber ich will mich nicht in rosige Zukunftsbilder versenken, die Gegen¬
wart ist ja auch schön. Gerade die letzten Wochen haben wieder bewiesen, daß
wir stetig fortschreiten — zurückschreiten, wenn Sie wollen, zum Urchristentum
und darüber hinaus. Mehr und mehr entledigen wir uns der aus barbarischen
Zeiten stammenden Vorurteile und Engherzigkeiten. Jener philisterhafte Glocken¬
gießer, welchen ich mir eingangs meiner heutigen Rede zu zitiren erlaubte, hielt
noch für das teuerste der Bande den Trieb zum Vaterlande. Wir aber haben


Grenzboten II. 1386. 54
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[0430] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten, 10. Wischer Thür und Angel drängt es mich noch einmal, das Wort zu ergreifen, nicht allein, um rasch noch die Zahl meiner Thaten um eine Nummer zu vermehren, sondern zugleich gewissen Äuße¬ rungen des Pessimismus entgegenzutreten. Es haben sich Klagen über die Unfruchtbarkeit der diesmaligen parlamentarischen Ver¬ handlungen erhoben. Meine Herren, das ist eine vontiMietio in Aäjsow, wie wir Lateiner sagen. Parlamentarische Verhandlungen können niemals unfruchtbar sein, weil sie selbst Frucht sind, und zwar die höchste und beste, die es geben kann. „Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort" — die Wahrheit dieser Behauptung hat sich im Zeitalter des Strumpsstrickens hinlänglich erprobt; wie groß muß erst das Erträgnis sein, wenn die Rede zugleich Arbeit ist. Möge sich deshalb niemand durch die Thatsache verstimmen oder entmutigen lassen, daß die Sehnsucht des deutschen Volkes, seine Geschicke in die Hände eines Ministeriums Windthorst-Richter-Singer-Mayer-von der Decken-......sti gelegt zu sehen, auch diesmal wieder unerfüllt geblieben ist. Das wird ja endlich doch geschehen müssen, und — wenn nicht — nun, dann kann die Nation wenigstens die stenographischen Berichte getrost nach Hause tragen als einen Schatz, der über alle Schätze geht! Wenn sich ein Saal kon- struiren ließe, groß genug und zugleich akustisch, sodaß alle Volljährigen sich zu einer Versammlung vereinigen und Reden halten könnten, so wären wir auf einmal aller Sorgen enthoben. Jeder bekäme Diäten, sodaß er keiner andern Arbeit nachzugehen brauchte, jeder hätte eine zusagende Beschäftigung, regel¬ mäßige, wenn auch bescheidne Einnahme, alle Aufregungen, Ärgernisse und Kosten der Wahlen fielen weg, niemand brauchte Wahlpolitik zu treiben, jeder wäre immun und — ich wette darauf, zufrieden. Also nicht die Staatskünstler sollten sich fürder die Köpfe zerbrechen, an der Mechanik ist jetzt die Reihe! Aber ich will mich nicht in rosige Zukunftsbilder versenken, die Gegen¬ wart ist ja auch schön. Gerade die letzten Wochen haben wieder bewiesen, daß wir stetig fortschreiten — zurückschreiten, wenn Sie wollen, zum Urchristentum und darüber hinaus. Mehr und mehr entledigen wir uns der aus barbarischen Zeiten stammenden Vorurteile und Engherzigkeiten. Jener philisterhafte Glocken¬ gießer, welchen ich mir eingangs meiner heutigen Rede zu zitiren erlaubte, hielt noch für das teuerste der Bande den Trieb zum Vaterlande. Wir aber haben Grenzboten II. 1386. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/430>, abgerufen am 04.05.2024.