Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gustav Nachtigal in Tunis.

eher die näheren Lebensumstände des Forschers, dessen Tod wir
tief betrauern, ist, was die Periode zwischen seiner Reise nach
Tunis und der Übernahme seiner ersten Mission uach Bornu be¬
trifft, verhältnismäßig wenig bekanntgeworden, obgleich gerade diese
Zeit für seine Entwicklung eine äußerst bedeutungsvolle war. Es
ist bekannt, daß Nachtigal infolge eines BrnstleidenS gezwungen war, ein wär¬
meres Klima aufzusuchen, und von Algier nach Tunis ging, um dort als Arzt
zu prciktiziren; aber die sich seiner Absicht entgegentürmcnden Schwierigkeiten,
welche in den dortigen Verhältnissen sowohl wie in ihm selbst lagen, sind bis
jetzt weniger gewürdigt worden. Und doch wurde gerade in diesen schwierigen
Kämpfen seine Kraft gestählt, und seine geistige Durchbildung nahm an Inten¬
sität zu, sodaß er, als seines Königs Ruf an ihn erging, in jeder Beziehung
gerüstet seine gefahrvolle Reise antreten konnte.

Im Nachfolgenden soll versucht werden, auf Grund der an seine Schwester
geschriebenen Briefe ein Bild seines dortigen Lebens zu entwerfen, und zwar
von seiner Thätigkeit während der tunesischen Revolution im Jahre 1364 an.
Das erste Jahr seiner Anwesenheit in Tunis war ein verhältnismüßig trüb¬
seliges gewesen; erst von dieser Zeit ist ein gewisser Aufschwung in seiner Stim¬
mung und seinen Verhältnissen zu bemerken. Den Schluß werden einige wäh¬
rend seines letzten Aufenthaltes in Tunis geschriebene Briefe bilden, für deren
Übermittlung und Entzifferung, denn die Handschrift Nachtigals war eine mi¬
kroskopische, der Herausgeber dem Neffen des Verstorbenen, Herrn R. Prietze,
dem das Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit gebührt, zu Danke verpflichtet ist.

Die unglaubliche Mißwirtschaft der tunesischen Negierung hatte durch eine
gewaltige Erhöhung der Kopfsteuer im Jahre 1864 einen Aufstand hervorge¬
rufen, der alles über den Haufen zu stürzen drohte. 60--100000 Mann aus
den westlichen Distrikten hatten sich zusammengerottet und forderten Abschaffung
der Konstitution, dazu die Köpfe des Khasnadar, des Premierministers, den sie
hauptsächlich für ihr Elend verantwortlich machten, und mehrerer seiner Krea¬
turen. Eine gegen sie gesandte Abteilung Soldaten hatten sie zersprengt und
dem General derselben den Kopf abgeschnitten. Die Regierung versuchte bei ihrer
unzureichenden Militärmacht zu beschwichtigen. Die Steuer wurde.wieder herab¬
gesetzt, die Konstitution suspendirt, der Bey saß wieder zu Gericht, wie in den
alten patriarchalischen Zeiten, und namentlich das letztere Zugeständnis, von


Gustav Nachtigal in Tunis.

eher die näheren Lebensumstände des Forschers, dessen Tod wir
tief betrauern, ist, was die Periode zwischen seiner Reise nach
Tunis und der Übernahme seiner ersten Mission uach Bornu be¬
trifft, verhältnismäßig wenig bekanntgeworden, obgleich gerade diese
Zeit für seine Entwicklung eine äußerst bedeutungsvolle war. Es
ist bekannt, daß Nachtigal infolge eines BrnstleidenS gezwungen war, ein wär¬
meres Klima aufzusuchen, und von Algier nach Tunis ging, um dort als Arzt
zu prciktiziren; aber die sich seiner Absicht entgegentürmcnden Schwierigkeiten,
welche in den dortigen Verhältnissen sowohl wie in ihm selbst lagen, sind bis
jetzt weniger gewürdigt worden. Und doch wurde gerade in diesen schwierigen
Kämpfen seine Kraft gestählt, und seine geistige Durchbildung nahm an Inten¬
sität zu, sodaß er, als seines Königs Ruf an ihn erging, in jeder Beziehung
gerüstet seine gefahrvolle Reise antreten konnte.

Im Nachfolgenden soll versucht werden, auf Grund der an seine Schwester
geschriebenen Briefe ein Bild seines dortigen Lebens zu entwerfen, und zwar
von seiner Thätigkeit während der tunesischen Revolution im Jahre 1364 an.
Das erste Jahr seiner Anwesenheit in Tunis war ein verhältnismüßig trüb¬
seliges gewesen; erst von dieser Zeit ist ein gewisser Aufschwung in seiner Stim¬
mung und seinen Verhältnissen zu bemerken. Den Schluß werden einige wäh¬
rend seines letzten Aufenthaltes in Tunis geschriebene Briefe bilden, für deren
Übermittlung und Entzifferung, denn die Handschrift Nachtigals war eine mi¬
kroskopische, der Herausgeber dem Neffen des Verstorbenen, Herrn R. Prietze,
dem das Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit gebührt, zu Danke verpflichtet ist.

Die unglaubliche Mißwirtschaft der tunesischen Negierung hatte durch eine
gewaltige Erhöhung der Kopfsteuer im Jahre 1864 einen Aufstand hervorge¬
rufen, der alles über den Haufen zu stürzen drohte. 60—100000 Mann aus
den westlichen Distrikten hatten sich zusammengerottet und forderten Abschaffung
der Konstitution, dazu die Köpfe des Khasnadar, des Premierministers, den sie
hauptsächlich für ihr Elend verantwortlich machten, und mehrerer seiner Krea¬
turen. Eine gegen sie gesandte Abteilung Soldaten hatten sie zersprengt und
dem General derselben den Kopf abgeschnitten. Die Regierung versuchte bei ihrer
unzureichenden Militärmacht zu beschwichtigen. Die Steuer wurde.wieder herab¬
gesetzt, die Konstitution suspendirt, der Bey saß wieder zu Gericht, wie in den
alten patriarchalischen Zeiten, und namentlich das letztere Zugeständnis, von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0118" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196218"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gustav Nachtigal in Tunis.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_407"> eher die näheren Lebensumstände des Forschers, dessen Tod wir<lb/>
tief betrauern, ist, was die Periode zwischen seiner Reise nach<lb/>
Tunis und der Übernahme seiner ersten Mission uach Bornu be¬<lb/>
trifft, verhältnismäßig wenig bekanntgeworden, obgleich gerade diese<lb/>
Zeit für seine Entwicklung eine äußerst bedeutungsvolle war. Es<lb/>
ist bekannt, daß Nachtigal infolge eines BrnstleidenS gezwungen war, ein wär¬<lb/>
meres Klima aufzusuchen, und von Algier nach Tunis ging, um dort als Arzt<lb/>
zu prciktiziren; aber die sich seiner Absicht entgegentürmcnden Schwierigkeiten,<lb/>
welche in den dortigen Verhältnissen sowohl wie in ihm selbst lagen, sind bis<lb/>
jetzt weniger gewürdigt worden. Und doch wurde gerade in diesen schwierigen<lb/>
Kämpfen seine Kraft gestählt, und seine geistige Durchbildung nahm an Inten¬<lb/>
sität zu, sodaß er, als seines Königs Ruf an ihn erging, in jeder Beziehung<lb/>
gerüstet seine gefahrvolle Reise antreten konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_408"> Im Nachfolgenden soll versucht werden, auf Grund der an seine Schwester<lb/>
geschriebenen Briefe ein Bild seines dortigen Lebens zu entwerfen, und zwar<lb/>
von seiner Thätigkeit während der tunesischen Revolution im Jahre 1364 an.<lb/>
Das erste Jahr seiner Anwesenheit in Tunis war ein verhältnismüßig trüb¬<lb/>
seliges gewesen; erst von dieser Zeit ist ein gewisser Aufschwung in seiner Stim¬<lb/>
mung und seinen Verhältnissen zu bemerken. Den Schluß werden einige wäh¬<lb/>
rend seines letzten Aufenthaltes in Tunis geschriebene Briefe bilden, für deren<lb/>
Übermittlung und Entzifferung, denn die Handschrift Nachtigals war eine mi¬<lb/>
kroskopische, der Herausgeber dem Neffen des Verstorbenen, Herrn R. Prietze,<lb/>
dem das Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit gebührt, zu Danke verpflichtet ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_409" next="#ID_410"> Die unglaubliche Mißwirtschaft der tunesischen Negierung hatte durch eine<lb/>
gewaltige Erhöhung der Kopfsteuer im Jahre 1864 einen Aufstand hervorge¬<lb/>
rufen, der alles über den Haufen zu stürzen drohte. 60&#x2014;100000 Mann aus<lb/>
den westlichen Distrikten hatten sich zusammengerottet und forderten Abschaffung<lb/>
der Konstitution, dazu die Köpfe des Khasnadar, des Premierministers, den sie<lb/>
hauptsächlich für ihr Elend verantwortlich machten, und mehrerer seiner Krea¬<lb/>
turen. Eine gegen sie gesandte Abteilung Soldaten hatten sie zersprengt und<lb/>
dem General derselben den Kopf abgeschnitten. Die Regierung versuchte bei ihrer<lb/>
unzureichenden Militärmacht zu beschwichtigen. Die Steuer wurde.wieder herab¬<lb/>
gesetzt, die Konstitution suspendirt, der Bey saß wieder zu Gericht, wie in den<lb/>
alten patriarchalischen Zeiten, und namentlich das letztere Zugeständnis, von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0118] Gustav Nachtigal in Tunis. eher die näheren Lebensumstände des Forschers, dessen Tod wir tief betrauern, ist, was die Periode zwischen seiner Reise nach Tunis und der Übernahme seiner ersten Mission uach Bornu be¬ trifft, verhältnismäßig wenig bekanntgeworden, obgleich gerade diese Zeit für seine Entwicklung eine äußerst bedeutungsvolle war. Es ist bekannt, daß Nachtigal infolge eines BrnstleidenS gezwungen war, ein wär¬ meres Klima aufzusuchen, und von Algier nach Tunis ging, um dort als Arzt zu prciktiziren; aber die sich seiner Absicht entgegentürmcnden Schwierigkeiten, welche in den dortigen Verhältnissen sowohl wie in ihm selbst lagen, sind bis jetzt weniger gewürdigt worden. Und doch wurde gerade in diesen schwierigen Kämpfen seine Kraft gestählt, und seine geistige Durchbildung nahm an Inten¬ sität zu, sodaß er, als seines Königs Ruf an ihn erging, in jeder Beziehung gerüstet seine gefahrvolle Reise antreten konnte. Im Nachfolgenden soll versucht werden, auf Grund der an seine Schwester geschriebenen Briefe ein Bild seines dortigen Lebens zu entwerfen, und zwar von seiner Thätigkeit während der tunesischen Revolution im Jahre 1364 an. Das erste Jahr seiner Anwesenheit in Tunis war ein verhältnismüßig trüb¬ seliges gewesen; erst von dieser Zeit ist ein gewisser Aufschwung in seiner Stim¬ mung und seinen Verhältnissen zu bemerken. Den Schluß werden einige wäh¬ rend seines letzten Aufenthaltes in Tunis geschriebene Briefe bilden, für deren Übermittlung und Entzifferung, denn die Handschrift Nachtigals war eine mi¬ kroskopische, der Herausgeber dem Neffen des Verstorbenen, Herrn R. Prietze, dem das Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit gebührt, zu Danke verpflichtet ist. Die unglaubliche Mißwirtschaft der tunesischen Negierung hatte durch eine gewaltige Erhöhung der Kopfsteuer im Jahre 1864 einen Aufstand hervorge¬ rufen, der alles über den Haufen zu stürzen drohte. 60—100000 Mann aus den westlichen Distrikten hatten sich zusammengerottet und forderten Abschaffung der Konstitution, dazu die Köpfe des Khasnadar, des Premierministers, den sie hauptsächlich für ihr Elend verantwortlich machten, und mehrerer seiner Krea¬ turen. Eine gegen sie gesandte Abteilung Soldaten hatten sie zersprengt und dem General derselben den Kopf abgeschnitten. Die Regierung versuchte bei ihrer unzureichenden Militärmacht zu beschwichtigen. Die Steuer wurde.wieder herab¬ gesetzt, die Konstitution suspendirt, der Bey saß wieder zu Gericht, wie in den alten patriarchalischen Zeiten, und namentlich das letztere Zugeständnis, von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/118
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/118>, abgerufen am 30.04.2024.