Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

lichkeit in leicht erkennbaren Siegel jedem Vers, jedem Gleichnis, jedem Einfall
aufprägt, den sie niederschreibe. Wir haben nichts von ihren Hymnen "Der
Schönheit," "Der Kuß," von ihrer großartigen "Vision" gesagt, in der sie von
Kronos die Wahrheit begehrt und die Sehnsucht als irdisches Erbteil erhält;
dieses orgiastische Element haben wir kaum angedeutet. Indes sei es genug
mit der Hervorhebung der Hauptzüge, die wohl unser Urteil bestätigen, daß es
eine geistreiche und sehr interessante Persönlichkeit ist, welche sich in den
"Dichtungen" ausspricht. Was die Durchbildung der innern Form anlangt,
die gern etwas breit, wortreich, rhetorisch wird, was die nicht immer rein
poetische Bildlichkeit im Ausdrucke und in der Anschauung betrifft, wo nur zu
sehr Allegorien und abstrakte Wendungen beliebt sind, kurz, in künstlerischer
Beziehung ließe sich vielfach an diesen Gedichten herumnörgeln; aber wir glauben,
es genügt die bloße Andeutung dieser leicht abstreifbarcn Schwächen, um der
Dichterin das Studium des echt poetischen Stiles nahezulegen. Hat sie ihren
Stil erst künstlerisch ausgebildet, so ist es außer Zweifel, daß sie sich den
edelsten dichterischen Frauengestalten wird anreihen können, welche die deutsche
Literatur besitzt.


M. Necker.


Reisebriefe aus Italien vom Jahre ^882.
Aus dem Nachlasse von N>. Roß manu. (Fortsetzung.)

ir begannen mit der Augustinerkirche Maria del Popolo, unmittel¬
bar am Thore gleichen Namens. Mehrere Kapellen und der Chor
sind von Pinturicchio ausgemalt, und diese Fresken gehören zu
dem Anmutigsten, was in Rom zu sehen ist.MM.
MMW

Hinter dem Chor die im Jahre 1507 errichteten Grabmäler des
Kardinals Basso und des Kardinals Sforza von Sansovino, Arbeiten
von feinstem Geschmack, sowohl was die Architektur wie was die Skulptur betrifft. Da¬
rüber Glcisgemttlde aus dem Jahre 1S09 von Guillaume de Marcillcit und Claude aus¬
geführt, von vorzüglicher Schönheit. Von edelster Harmonie ist die Kapelle der Novere,
welcher mehrere Päpste, unter ihnen Julius der Zweite, angehörten. Ein Marmor-
und Jaspis-Ensemble von bestem Geschmack ist die Kapelle Cibo; das Vollkommenste
aber ist die von Raffael gebaute und nach seinen Entwürfen geschmückte Kapelle


lichkeit in leicht erkennbaren Siegel jedem Vers, jedem Gleichnis, jedem Einfall
aufprägt, den sie niederschreibe. Wir haben nichts von ihren Hymnen „Der
Schönheit," „Der Kuß," von ihrer großartigen „Vision" gesagt, in der sie von
Kronos die Wahrheit begehrt und die Sehnsucht als irdisches Erbteil erhält;
dieses orgiastische Element haben wir kaum angedeutet. Indes sei es genug
mit der Hervorhebung der Hauptzüge, die wohl unser Urteil bestätigen, daß es
eine geistreiche und sehr interessante Persönlichkeit ist, welche sich in den
„Dichtungen" ausspricht. Was die Durchbildung der innern Form anlangt,
die gern etwas breit, wortreich, rhetorisch wird, was die nicht immer rein
poetische Bildlichkeit im Ausdrucke und in der Anschauung betrifft, wo nur zu
sehr Allegorien und abstrakte Wendungen beliebt sind, kurz, in künstlerischer
Beziehung ließe sich vielfach an diesen Gedichten herumnörgeln; aber wir glauben,
es genügt die bloße Andeutung dieser leicht abstreifbarcn Schwächen, um der
Dichterin das Studium des echt poetischen Stiles nahezulegen. Hat sie ihren
Stil erst künstlerisch ausgebildet, so ist es außer Zweifel, daß sie sich den
edelsten dichterischen Frauengestalten wird anreihen können, welche die deutsche
Literatur besitzt.


M. Necker.


Reisebriefe aus Italien vom Jahre ^882.
Aus dem Nachlasse von N>. Roß manu. (Fortsetzung.)

ir begannen mit der Augustinerkirche Maria del Popolo, unmittel¬
bar am Thore gleichen Namens. Mehrere Kapellen und der Chor
sind von Pinturicchio ausgemalt, und diese Fresken gehören zu
dem Anmutigsten, was in Rom zu sehen ist.MM.
MMW

Hinter dem Chor die im Jahre 1507 errichteten Grabmäler des
Kardinals Basso und des Kardinals Sforza von Sansovino, Arbeiten
von feinstem Geschmack, sowohl was die Architektur wie was die Skulptur betrifft. Da¬
rüber Glcisgemttlde aus dem Jahre 1S09 von Guillaume de Marcillcit und Claude aus¬
geführt, von vorzüglicher Schönheit. Von edelster Harmonie ist die Kapelle der Novere,
welcher mehrere Päpste, unter ihnen Julius der Zweite, angehörten. Ein Marmor-
und Jaspis-Ensemble von bestem Geschmack ist die Kapelle Cibo; das Vollkommenste
aber ist die von Raffael gebaute und nach seinen Entwürfen geschmückte Kapelle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0134" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196234"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_470" prev="#ID_469"> lichkeit in leicht erkennbaren Siegel jedem Vers, jedem Gleichnis, jedem Einfall<lb/>
aufprägt, den sie niederschreibe. Wir haben nichts von ihren Hymnen &#x201E;Der<lb/>
Schönheit," &#x201E;Der Kuß," von ihrer großartigen &#x201E;Vision" gesagt, in der sie von<lb/>
Kronos die Wahrheit begehrt und die Sehnsucht als irdisches Erbteil erhält;<lb/>
dieses orgiastische Element haben wir kaum angedeutet. Indes sei es genug<lb/>
mit der Hervorhebung der Hauptzüge, die wohl unser Urteil bestätigen, daß es<lb/>
eine geistreiche und sehr interessante Persönlichkeit ist, welche sich in den<lb/>
&#x201E;Dichtungen" ausspricht. Was die Durchbildung der innern Form anlangt,<lb/>
die gern etwas breit, wortreich, rhetorisch wird, was die nicht immer rein<lb/>
poetische Bildlichkeit im Ausdrucke und in der Anschauung betrifft, wo nur zu<lb/>
sehr Allegorien und abstrakte Wendungen beliebt sind, kurz, in künstlerischer<lb/>
Beziehung ließe sich vielfach an diesen Gedichten herumnörgeln; aber wir glauben,<lb/>
es genügt die bloße Andeutung dieser leicht abstreifbarcn Schwächen, um der<lb/>
Dichterin das Studium des echt poetischen Stiles nahezulegen. Hat sie ihren<lb/>
Stil erst künstlerisch ausgebildet, so ist es außer Zweifel, daß sie sich den<lb/>
edelsten dichterischen Frauengestalten wird anreihen können, welche die deutsche<lb/>
Literatur besitzt.</p><lb/>
          <note type="byline"> M. Necker.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Reisebriefe aus Italien vom Jahre ^882.<lb/><note type="byline"> Aus dem Nachlasse von N&gt;. Roß manu.</note> (Fortsetzung.)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_471"> ir begannen mit der Augustinerkirche Maria del Popolo, unmittel¬<lb/>
bar am Thore gleichen Namens. Mehrere Kapellen und der Chor<lb/>
sind von Pinturicchio ausgemalt, und diese Fresken gehören zu<lb/>
dem Anmutigsten, was in Rom zu sehen ist.MM.<lb/>
MMW</p><lb/>
          <p xml:id="ID_472" next="#ID_473"> Hinter dem Chor die im Jahre 1507 errichteten Grabmäler des<lb/>
Kardinals Basso und des Kardinals Sforza von Sansovino, Arbeiten<lb/>
von feinstem Geschmack, sowohl was die Architektur wie was die Skulptur betrifft. Da¬<lb/>
rüber Glcisgemttlde aus dem Jahre 1S09 von Guillaume de Marcillcit und Claude aus¬<lb/>
geführt, von vorzüglicher Schönheit. Von edelster Harmonie ist die Kapelle der Novere,<lb/>
welcher mehrere Päpste, unter ihnen Julius der Zweite, angehörten. Ein Marmor-<lb/>
und Jaspis-Ensemble von bestem Geschmack ist die Kapelle Cibo; das Vollkommenste<lb/>
aber ist die von Raffael gebaute und nach seinen Entwürfen geschmückte Kapelle</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0134] lichkeit in leicht erkennbaren Siegel jedem Vers, jedem Gleichnis, jedem Einfall aufprägt, den sie niederschreibe. Wir haben nichts von ihren Hymnen „Der Schönheit," „Der Kuß," von ihrer großartigen „Vision" gesagt, in der sie von Kronos die Wahrheit begehrt und die Sehnsucht als irdisches Erbteil erhält; dieses orgiastische Element haben wir kaum angedeutet. Indes sei es genug mit der Hervorhebung der Hauptzüge, die wohl unser Urteil bestätigen, daß es eine geistreiche und sehr interessante Persönlichkeit ist, welche sich in den „Dichtungen" ausspricht. Was die Durchbildung der innern Form anlangt, die gern etwas breit, wortreich, rhetorisch wird, was die nicht immer rein poetische Bildlichkeit im Ausdrucke und in der Anschauung betrifft, wo nur zu sehr Allegorien und abstrakte Wendungen beliebt sind, kurz, in künstlerischer Beziehung ließe sich vielfach an diesen Gedichten herumnörgeln; aber wir glauben, es genügt die bloße Andeutung dieser leicht abstreifbarcn Schwächen, um der Dichterin das Studium des echt poetischen Stiles nahezulegen. Hat sie ihren Stil erst künstlerisch ausgebildet, so ist es außer Zweifel, daß sie sich den edelsten dichterischen Frauengestalten wird anreihen können, welche die deutsche Literatur besitzt. M. Necker. Reisebriefe aus Italien vom Jahre ^882. Aus dem Nachlasse von N>. Roß manu. (Fortsetzung.) ir begannen mit der Augustinerkirche Maria del Popolo, unmittel¬ bar am Thore gleichen Namens. Mehrere Kapellen und der Chor sind von Pinturicchio ausgemalt, und diese Fresken gehören zu dem Anmutigsten, was in Rom zu sehen ist.MM. MMW Hinter dem Chor die im Jahre 1507 errichteten Grabmäler des Kardinals Basso und des Kardinals Sforza von Sansovino, Arbeiten von feinstem Geschmack, sowohl was die Architektur wie was die Skulptur betrifft. Da¬ rüber Glcisgemttlde aus dem Jahre 1S09 von Guillaume de Marcillcit und Claude aus¬ geführt, von vorzüglicher Schönheit. Von edelster Harmonie ist die Kapelle der Novere, welcher mehrere Päpste, unter ihnen Julius der Zweite, angehörten. Ein Marmor- und Jaspis-Ensemble von bestem Geschmack ist die Kapelle Cibo; das Vollkommenste aber ist die von Raffael gebaute und nach seinen Entwürfen geschmückte Kapelle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/134
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/134>, abgerufen am 30.04.2024.