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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Heinrich Leuthold.

dem Bannkreise seiner gewohnten Trottoirs entgegensetzt. Da ist denn vielleicht
die Annahme gerechtfertigt, daß die Folgen des Maurerstreiks den Geist der
Berliner behender machen werden. Wenn einmal die Mieter in der Stadt um
fünfzig Prozent mehr gestiegen sein werden, dann besinnt sich doch vielleicht
mancher Berliner ans das einzige Mittel, welches es giebt, um mit seiner
Familie auf die Dauer der Mietwohnungsmisere zu entfliehen: den Bau oder
die Erwerbung eines eignen Hauses, dem, schon damit dem Elemente der
Spekulation auf die Zukunft auch sein Recht wird, der Garten nicht fehlen darf.

Noch ist Berlin keine Musterstadt für Deutschland, und noch vieles fehlt,
ehe es alle Annehmlichkeiten andrer deutschen Städte soweit möglich in sich
vereinigt. Eine weniger sparsame Ausnutzung des Bauterrains und die Ent¬
stehung ausgedehnter Villenstraßen im Westen und Südwesten von Berlin würde
sehr dazu beitragen, die Annehmlichkeiten sowohl des dauernden Wohnens wie
des flüchtigen Aufenthaltes in Berlin zu erhöhen. Ohne bessere Häuser- und
Mietpreise ist aber beides nicht möglich -- das mag hart sein, aber es ist
gegen diese innere Notwendigkeit nicht anzukämpfen. Insofern der große
Maurerstreik des Sommers 1385 der Bevölkerung von Berlin die Sachlage
schärfer vor Augen rückt und sie zum alsbaldigen Bruche mit der bisher be¬
folgten Straußenpolitik veranlaßt, wird diese, jetzt so vielbeklagte Angelegenheit
als ein Wendepunkt zum Bessern bezeichnet werdenWürfen.




Heinrich Leuthold.

aß man heutzutage, in dieser der ernsten Lyrik so abholden Zeit,
in die Lage kommen kann, der Überschätzung eines Lyrikers, der nicht
banal wie Mirzci Schafft) oder sorglos heiter wie Baumbach ist,
entgegenzutreten, ist wohl eine seltene Erscheinung, und doch ist
dies mit einer gewissen Berechtigung geschehen, und zwar von
einem ernsten, der Wahrheit ehrlich und gewissenhaft nachstrebenden Manne. Als
vor sechs Jahren die Gedichte Heinrich Leutholds zum erstenmale erschienen waren
und sich zugleich die Nachricht verbreitete, der Dichter sei ins Irrenhaus zu Zürich
gebracht worden (wo er auch bald nach seiner Aufnahme, am 1. Juli 1879, starb),
da waren viele Schriftsteller gleich mit der Parole fertig: "Wieder einer in
der tragischen Reihe der Hölderlin, Heinrich von Kleist, Lenau" (I. I, Honegger,
"Unsre Zeit" 1880, I, 241), und ohne nähere Untersuchung auf ihren Wahr-


Heinrich Leuthold.

dem Bannkreise seiner gewohnten Trottoirs entgegensetzt. Da ist denn vielleicht
die Annahme gerechtfertigt, daß die Folgen des Maurerstreiks den Geist der
Berliner behender machen werden. Wenn einmal die Mieter in der Stadt um
fünfzig Prozent mehr gestiegen sein werden, dann besinnt sich doch vielleicht
mancher Berliner ans das einzige Mittel, welches es giebt, um mit seiner
Familie auf die Dauer der Mietwohnungsmisere zu entfliehen: den Bau oder
die Erwerbung eines eignen Hauses, dem, schon damit dem Elemente der
Spekulation auf die Zukunft auch sein Recht wird, der Garten nicht fehlen darf.

Noch ist Berlin keine Musterstadt für Deutschland, und noch vieles fehlt,
ehe es alle Annehmlichkeiten andrer deutschen Städte soweit möglich in sich
vereinigt. Eine weniger sparsame Ausnutzung des Bauterrains und die Ent¬
stehung ausgedehnter Villenstraßen im Westen und Südwesten von Berlin würde
sehr dazu beitragen, die Annehmlichkeiten sowohl des dauernden Wohnens wie
des flüchtigen Aufenthaltes in Berlin zu erhöhen. Ohne bessere Häuser- und
Mietpreise ist aber beides nicht möglich — das mag hart sein, aber es ist
gegen diese innere Notwendigkeit nicht anzukämpfen. Insofern der große
Maurerstreik des Sommers 1385 der Bevölkerung von Berlin die Sachlage
schärfer vor Augen rückt und sie zum alsbaldigen Bruche mit der bisher be¬
folgten Straußenpolitik veranlaßt, wird diese, jetzt so vielbeklagte Angelegenheit
als ein Wendepunkt zum Bessern bezeichnet werdenWürfen.




Heinrich Leuthold.

aß man heutzutage, in dieser der ernsten Lyrik so abholden Zeit,
in die Lage kommen kann, der Überschätzung eines Lyrikers, der nicht
banal wie Mirzci Schafft) oder sorglos heiter wie Baumbach ist,
entgegenzutreten, ist wohl eine seltene Erscheinung, und doch ist
dies mit einer gewissen Berechtigung geschehen, und zwar von
einem ernsten, der Wahrheit ehrlich und gewissenhaft nachstrebenden Manne. Als
vor sechs Jahren die Gedichte Heinrich Leutholds zum erstenmale erschienen waren
und sich zugleich die Nachricht verbreitete, der Dichter sei ins Irrenhaus zu Zürich
gebracht worden (wo er auch bald nach seiner Aufnahme, am 1. Juli 1879, starb),
da waren viele Schriftsteller gleich mit der Parole fertig: „Wieder einer in
der tragischen Reihe der Hölderlin, Heinrich von Kleist, Lenau" (I. I, Honegger,
„Unsre Zeit" 1880, I, 241), und ohne nähere Untersuchung auf ihren Wahr-


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[0222] Heinrich Leuthold. dem Bannkreise seiner gewohnten Trottoirs entgegensetzt. Da ist denn vielleicht die Annahme gerechtfertigt, daß die Folgen des Maurerstreiks den Geist der Berliner behender machen werden. Wenn einmal die Mieter in der Stadt um fünfzig Prozent mehr gestiegen sein werden, dann besinnt sich doch vielleicht mancher Berliner ans das einzige Mittel, welches es giebt, um mit seiner Familie auf die Dauer der Mietwohnungsmisere zu entfliehen: den Bau oder die Erwerbung eines eignen Hauses, dem, schon damit dem Elemente der Spekulation auf die Zukunft auch sein Recht wird, der Garten nicht fehlen darf. Noch ist Berlin keine Musterstadt für Deutschland, und noch vieles fehlt, ehe es alle Annehmlichkeiten andrer deutschen Städte soweit möglich in sich vereinigt. Eine weniger sparsame Ausnutzung des Bauterrains und die Ent¬ stehung ausgedehnter Villenstraßen im Westen und Südwesten von Berlin würde sehr dazu beitragen, die Annehmlichkeiten sowohl des dauernden Wohnens wie des flüchtigen Aufenthaltes in Berlin zu erhöhen. Ohne bessere Häuser- und Mietpreise ist aber beides nicht möglich — das mag hart sein, aber es ist gegen diese innere Notwendigkeit nicht anzukämpfen. Insofern der große Maurerstreik des Sommers 1385 der Bevölkerung von Berlin die Sachlage schärfer vor Augen rückt und sie zum alsbaldigen Bruche mit der bisher be¬ folgten Straußenpolitik veranlaßt, wird diese, jetzt so vielbeklagte Angelegenheit als ein Wendepunkt zum Bessern bezeichnet werdenWürfen. Heinrich Leuthold. aß man heutzutage, in dieser der ernsten Lyrik so abholden Zeit, in die Lage kommen kann, der Überschätzung eines Lyrikers, der nicht banal wie Mirzci Schafft) oder sorglos heiter wie Baumbach ist, entgegenzutreten, ist wohl eine seltene Erscheinung, und doch ist dies mit einer gewissen Berechtigung geschehen, und zwar von einem ernsten, der Wahrheit ehrlich und gewissenhaft nachstrebenden Manne. Als vor sechs Jahren die Gedichte Heinrich Leutholds zum erstenmale erschienen waren und sich zugleich die Nachricht verbreitete, der Dichter sei ins Irrenhaus zu Zürich gebracht worden (wo er auch bald nach seiner Aufnahme, am 1. Juli 1879, starb), da waren viele Schriftsteller gleich mit der Parole fertig: „Wieder einer in der tragischen Reihe der Hölderlin, Heinrich von Kleist, Lenau" (I. I, Honegger, „Unsre Zeit" 1880, I, 241), und ohne nähere Untersuchung auf ihren Wahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/222>, abgerufen am 30.04.2024.