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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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2^echtspolitische Streifzüge.

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W>nur es zu den Aufgaben einer Wochenschrift gehört, hervorragende
Tagesereignisse von einem allgemeinen Gesichtspunkte aus zu be¬
trachten, so wird diese Aufgabe gewiß umso dankbarer, wenn ein
gewisser Zeitablauf eingetreten ist und erwartet werden kann, daß
die sozusagen philosophische Betrachtung nicht mehr derart unter
der Einwirkung dieses Ereignisses steht, um dadurch in ihrer Objektivität beein¬
flußt zu werden.

Zu den hervorragenden Tagesereignissen der letzten Wochen wird man die
Prozesse des Berliner Hofpredigers Stöcker rechnen dürfen. Der politische
Kampf, in welchen derselbe seit Jahren gerade mit der Richtung getreten ist,
welche sich seit Jahrzehnten in dem Besitze der politischen Herrschaft Berlins
befand, ist auf beiden Seiten mit so vieler Leidenschaftlichkeit und Erbitte¬
rung gekämpft worden, daß der Streit nicht anders im Gerichtssaal als in
der Volksversammlung geführt wurde. Nun ist es gewiß das Verkehrteste,
einen politischen Streit, einen Kampf um Ideen vor Gericht ausfechten und
etwa annehmen zu wollen, daß das Urteil des Gerichtes berufen sei, diesen
Streit zu schlichten. Was hier allein entschieden werden kann, ist das, ob die
Gegner in ihrer gegenseitigen Befehdung diejenigen Grenzen eingehalten haben,
welche die Rechtsordnung in Staat und Gesellschaft dem Einzelnen um des
allgemeinen Friedens und Zusammenlebens willen auferlegen muß. Mau ist
aber vielfach im Publikum der Meinung, daß die Rechtsprechung eine an sich
formelle Thätigkeit sei und daß es deshalb nur der Anwendung bestimmter und
anfechtnngslos feststehender Sätze bedürfe, um jene Grenzpunkte zu bestimmen.
Da schien man plötzlich zu entdecken -- und diese Entdeckung ist umso merk-


Grenzbotm III. 1885. 31


2^echtspolitische Streifzüge.

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W>nur es zu den Aufgaben einer Wochenschrift gehört, hervorragende
Tagesereignisse von einem allgemeinen Gesichtspunkte aus zu be¬
trachten, so wird diese Aufgabe gewiß umso dankbarer, wenn ein
gewisser Zeitablauf eingetreten ist und erwartet werden kann, daß
die sozusagen philosophische Betrachtung nicht mehr derart unter
der Einwirkung dieses Ereignisses steht, um dadurch in ihrer Objektivität beein¬
flußt zu werden.

Zu den hervorragenden Tagesereignissen der letzten Wochen wird man die
Prozesse des Berliner Hofpredigers Stöcker rechnen dürfen. Der politische
Kampf, in welchen derselbe seit Jahren gerade mit der Richtung getreten ist,
welche sich seit Jahrzehnten in dem Besitze der politischen Herrschaft Berlins
befand, ist auf beiden Seiten mit so vieler Leidenschaftlichkeit und Erbitte¬
rung gekämpft worden, daß der Streit nicht anders im Gerichtssaal als in
der Volksversammlung geführt wurde. Nun ist es gewiß das Verkehrteste,
einen politischen Streit, einen Kampf um Ideen vor Gericht ausfechten und
etwa annehmen zu wollen, daß das Urteil des Gerichtes berufen sei, diesen
Streit zu schlichten. Was hier allein entschieden werden kann, ist das, ob die
Gegner in ihrer gegenseitigen Befehdung diejenigen Grenzen eingehalten haben,
welche die Rechtsordnung in Staat und Gesellschaft dem Einzelnen um des
allgemeinen Friedens und Zusammenlebens willen auferlegen muß. Mau ist
aber vielfach im Publikum der Meinung, daß die Rechtsprechung eine an sich
formelle Thätigkeit sei und daß es deshalb nur der Anwendung bestimmter und
anfechtnngslos feststehender Sätze bedürfe, um jene Grenzpunkte zu bestimmen.
Da schien man plötzlich zu entdecken — und diese Entdeckung ist umso merk-


Grenzbotm III. 1885. 31
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[0249] [Abbildung] 2^echtspolitische Streifzüge. ^M^Z W>nur es zu den Aufgaben einer Wochenschrift gehört, hervorragende Tagesereignisse von einem allgemeinen Gesichtspunkte aus zu be¬ trachten, so wird diese Aufgabe gewiß umso dankbarer, wenn ein gewisser Zeitablauf eingetreten ist und erwartet werden kann, daß die sozusagen philosophische Betrachtung nicht mehr derart unter der Einwirkung dieses Ereignisses steht, um dadurch in ihrer Objektivität beein¬ flußt zu werden. Zu den hervorragenden Tagesereignissen der letzten Wochen wird man die Prozesse des Berliner Hofpredigers Stöcker rechnen dürfen. Der politische Kampf, in welchen derselbe seit Jahren gerade mit der Richtung getreten ist, welche sich seit Jahrzehnten in dem Besitze der politischen Herrschaft Berlins befand, ist auf beiden Seiten mit so vieler Leidenschaftlichkeit und Erbitte¬ rung gekämpft worden, daß der Streit nicht anders im Gerichtssaal als in der Volksversammlung geführt wurde. Nun ist es gewiß das Verkehrteste, einen politischen Streit, einen Kampf um Ideen vor Gericht ausfechten und etwa annehmen zu wollen, daß das Urteil des Gerichtes berufen sei, diesen Streit zu schlichten. Was hier allein entschieden werden kann, ist das, ob die Gegner in ihrer gegenseitigen Befehdung diejenigen Grenzen eingehalten haben, welche die Rechtsordnung in Staat und Gesellschaft dem Einzelnen um des allgemeinen Friedens und Zusammenlebens willen auferlegen muß. Mau ist aber vielfach im Publikum der Meinung, daß die Rechtsprechung eine an sich formelle Thätigkeit sei und daß es deshalb nur der Anwendung bestimmter und anfechtnngslos feststehender Sätze bedürfe, um jene Grenzpunkte zu bestimmen. Da schien man plötzlich zu entdecken — und diese Entdeckung ist umso merk- Grenzbotm III. 1885. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/249>, abgerufen am 30.04.2024.