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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Literatur.

zum Teil dank der Schule) innewohnt. Die Schule ist nur das von frühern er¬
wachsenen Geschlechtern geschaffene und vom jetzigen erwachsenen Geschlechte erhaltene
und stetig fortgebildete Werkzeug.

Nehmen wir einmal an, die Schule hörte plötzlich auf. Würde etwa die
Bildung aus der Welt verschwinden? Ja würde auch nur ein einziger Bildungs¬
faktor verloren gehen? Sicherlich nicht. Die Fortpflanzung der Bildung würde
ohne Zweifel eine unvollkommene, unvollständigere, namentlich ungleichmäßigere
sein als heute; aber stattfinden würde sie ganz gewiß ebensowohl wie bisher, solange
es auf der einen Seite Eltern und mit der Freude am Lehren ausgerüstete
Personen, auf der andern Kinder und von Wissensdurst erfüllte Menschen giebt.
Nach dieser Seite hin würde sich im wesentlichen garnichts ändern. Also ist die
Schule nicht der die Bildung aus sich erzeugende und ermöglichende, souderu uur
der in bestimmten, bequem zurechtgemachten Formen sie übertragende Faktor.

Vielleicht dünkt es manchem unsrer geehrten Leser, bei dieser ganzen Betrachtung
laufe viel zwecklose Silbenstecherei mit unter; andre mögen der Ansicht sein, es
würden mit derselben offene Thüren eingeräumt. Wer aber den geistigen Hochmut
in der Nähe mit augesehen hat, mit dem unsre Schulmeister sich oft für die
alleinigen und unentbehrlichen Träger der Bildung halten, der fühlt eben das Be¬
dürfnis, sich selbst einmal darüber klar zu werden, daß die Schule keineswegs die
Ursache unsrer Bildung sei, sondern lediglich das Mittel, dieselbe in bestimmter
Weise zu übertragen, und daß der Stand unsrer Bildung selbst bei unserm er¬
wachsenen Geschlechte ruhe.




Literatur"
Fürstengunst von A. S. C. Wallis. Mit Genehmigung des Autors aus dem Hol¬
ländischen übersetzt von E. v. d. H. 3 Bände. Leipzig, Breitkopf und Hiirtel, 1L84.

Der Versuch, die tragische Gestalt König Erichs XIV. von Schweden ans die
Bühne zu bringen, ist so oft gemacht worden (von Prutz, Kruse, Weilen, Milow),
und so oft vergebens, daß sich nachgerade die Spötter darüber lustig machen
konnten, und daß es von vornherein nur dramatischen Anfängern und Stümpern
zugemutet wird, wieder einmal einen König Erich zu schreiben. Daß aber der
üble Ruf, den der königliche Hypochonder in der Poetischen Literatur bekommen,
nicht seinem eignen Verschulden zuzumessen ist, davon kann der obige ausgezeichnete
Roman Zeugnis ablegen. Er lehrt wieder die alte Lehre, daß die Geschichte selbst
poesiereichcr ist als die Phantasie der Stümper, und daß der geniale Dichter
zwanglos die Geschichte erläutert und zugleich die Poetische Pflicht erfüllt. Ju
diesem. Sinne ist der Roman von Wallis (ein Pseudonym) ein historischer Roman
erstell Ranges; denn nicht das Aeußerliche des historischen Lebens, das wechselnde
Kostüm in Sprache, Kleidung und Geschmack, anch nicht die politische Staatsakten
kommt da zur Geltung, sondern das, was in aller Geschichte sich gleichbleibt, was
alle Geschichte erst erzeugt: die ewig gleiche menschliche Natur. Es ist ein Charakter¬
roman, weil Wallis mit ausgezeichneter Kraft die Genesis und Entwicklung tiefer
und thatkräftiger Charaktere schildert; und es ist ein- historischer Roman, weil alle


Literatur.

zum Teil dank der Schule) innewohnt. Die Schule ist nur das von frühern er¬
wachsenen Geschlechtern geschaffene und vom jetzigen erwachsenen Geschlechte erhaltene
und stetig fortgebildete Werkzeug.

Nehmen wir einmal an, die Schule hörte plötzlich auf. Würde etwa die
Bildung aus der Welt verschwinden? Ja würde auch nur ein einziger Bildungs¬
faktor verloren gehen? Sicherlich nicht. Die Fortpflanzung der Bildung würde
ohne Zweifel eine unvollkommene, unvollständigere, namentlich ungleichmäßigere
sein als heute; aber stattfinden würde sie ganz gewiß ebensowohl wie bisher, solange
es auf der einen Seite Eltern und mit der Freude am Lehren ausgerüstete
Personen, auf der andern Kinder und von Wissensdurst erfüllte Menschen giebt.
Nach dieser Seite hin würde sich im wesentlichen garnichts ändern. Also ist die
Schule nicht der die Bildung aus sich erzeugende und ermöglichende, souderu uur
der in bestimmten, bequem zurechtgemachten Formen sie übertragende Faktor.

Vielleicht dünkt es manchem unsrer geehrten Leser, bei dieser ganzen Betrachtung
laufe viel zwecklose Silbenstecherei mit unter; andre mögen der Ansicht sein, es
würden mit derselben offene Thüren eingeräumt. Wer aber den geistigen Hochmut
in der Nähe mit augesehen hat, mit dem unsre Schulmeister sich oft für die
alleinigen und unentbehrlichen Träger der Bildung halten, der fühlt eben das Be¬
dürfnis, sich selbst einmal darüber klar zu werden, daß die Schule keineswegs die
Ursache unsrer Bildung sei, sondern lediglich das Mittel, dieselbe in bestimmter
Weise zu übertragen, und daß der Stand unsrer Bildung selbst bei unserm er¬
wachsenen Geschlechte ruhe.




Literatur«
Fürstengunst von A. S. C. Wallis. Mit Genehmigung des Autors aus dem Hol¬
ländischen übersetzt von E. v. d. H. 3 Bände. Leipzig, Breitkopf und Hiirtel, 1L84.

Der Versuch, die tragische Gestalt König Erichs XIV. von Schweden ans die
Bühne zu bringen, ist so oft gemacht worden (von Prutz, Kruse, Weilen, Milow),
und so oft vergebens, daß sich nachgerade die Spötter darüber lustig machen
konnten, und daß es von vornherein nur dramatischen Anfängern und Stümpern
zugemutet wird, wieder einmal einen König Erich zu schreiben. Daß aber der
üble Ruf, den der königliche Hypochonder in der Poetischen Literatur bekommen,
nicht seinem eignen Verschulden zuzumessen ist, davon kann der obige ausgezeichnete
Roman Zeugnis ablegen. Er lehrt wieder die alte Lehre, daß die Geschichte selbst
poesiereichcr ist als die Phantasie der Stümper, und daß der geniale Dichter
zwanglos die Geschichte erläutert und zugleich die Poetische Pflicht erfüllt. Ju
diesem. Sinne ist der Roman von Wallis (ein Pseudonym) ein historischer Roman
erstell Ranges; denn nicht das Aeußerliche des historischen Lebens, das wechselnde
Kostüm in Sprache, Kleidung und Geschmack, anch nicht die politische Staatsakten
kommt da zur Geltung, sondern das, was in aller Geschichte sich gleichbleibt, was
alle Geschichte erst erzeugt: die ewig gleiche menschliche Natur. Es ist ein Charakter¬
roman, weil Wallis mit ausgezeichneter Kraft die Genesis und Entwicklung tiefer
und thatkräftiger Charaktere schildert; und es ist ein- historischer Roman, weil alle


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[0294] Literatur. zum Teil dank der Schule) innewohnt. Die Schule ist nur das von frühern er¬ wachsenen Geschlechtern geschaffene und vom jetzigen erwachsenen Geschlechte erhaltene und stetig fortgebildete Werkzeug. Nehmen wir einmal an, die Schule hörte plötzlich auf. Würde etwa die Bildung aus der Welt verschwinden? Ja würde auch nur ein einziger Bildungs¬ faktor verloren gehen? Sicherlich nicht. Die Fortpflanzung der Bildung würde ohne Zweifel eine unvollkommene, unvollständigere, namentlich ungleichmäßigere sein als heute; aber stattfinden würde sie ganz gewiß ebensowohl wie bisher, solange es auf der einen Seite Eltern und mit der Freude am Lehren ausgerüstete Personen, auf der andern Kinder und von Wissensdurst erfüllte Menschen giebt. Nach dieser Seite hin würde sich im wesentlichen garnichts ändern. Also ist die Schule nicht der die Bildung aus sich erzeugende und ermöglichende, souderu uur der in bestimmten, bequem zurechtgemachten Formen sie übertragende Faktor. Vielleicht dünkt es manchem unsrer geehrten Leser, bei dieser ganzen Betrachtung laufe viel zwecklose Silbenstecherei mit unter; andre mögen der Ansicht sein, es würden mit derselben offene Thüren eingeräumt. Wer aber den geistigen Hochmut in der Nähe mit augesehen hat, mit dem unsre Schulmeister sich oft für die alleinigen und unentbehrlichen Träger der Bildung halten, der fühlt eben das Be¬ dürfnis, sich selbst einmal darüber klar zu werden, daß die Schule keineswegs die Ursache unsrer Bildung sei, sondern lediglich das Mittel, dieselbe in bestimmter Weise zu übertragen, und daß der Stand unsrer Bildung selbst bei unserm er¬ wachsenen Geschlechte ruhe. Literatur« Fürstengunst von A. S. C. Wallis. Mit Genehmigung des Autors aus dem Hol¬ ländischen übersetzt von E. v. d. H. 3 Bände. Leipzig, Breitkopf und Hiirtel, 1L84. Der Versuch, die tragische Gestalt König Erichs XIV. von Schweden ans die Bühne zu bringen, ist so oft gemacht worden (von Prutz, Kruse, Weilen, Milow), und so oft vergebens, daß sich nachgerade die Spötter darüber lustig machen konnten, und daß es von vornherein nur dramatischen Anfängern und Stümpern zugemutet wird, wieder einmal einen König Erich zu schreiben. Daß aber der üble Ruf, den der königliche Hypochonder in der Poetischen Literatur bekommen, nicht seinem eignen Verschulden zuzumessen ist, davon kann der obige ausgezeichnete Roman Zeugnis ablegen. Er lehrt wieder die alte Lehre, daß die Geschichte selbst poesiereichcr ist als die Phantasie der Stümper, und daß der geniale Dichter zwanglos die Geschichte erläutert und zugleich die Poetische Pflicht erfüllt. Ju diesem. Sinne ist der Roman von Wallis (ein Pseudonym) ein historischer Roman erstell Ranges; denn nicht das Aeußerliche des historischen Lebens, das wechselnde Kostüm in Sprache, Kleidung und Geschmack, anch nicht die politische Staatsakten kommt da zur Geltung, sondern das, was in aller Geschichte sich gleichbleibt, was alle Geschichte erst erzeugt: die ewig gleiche menschliche Natur. Es ist ein Charakter¬ roman, weil Wallis mit ausgezeichneter Kraft die Genesis und Entwicklung tiefer und thatkräftiger Charaktere schildert; und es ist ein- historischer Roman, weil alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/294>, abgerufen am 30.04.2024.