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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Analekten zur Geschichte der neuern deutschen Kunst.
von H. A. Lier.
Die Aufnahme der "belgischen Bilder" in Deutschland.

ur selten hat man in der Geschichte des geistigen Lebens die
Möglichkeit, so klar und deutlich den Zeitpunkt zu erkennen, wo
eine neue Richtung der bisher herrschenden entgegentritt und aus
dem nun beginnenden Kampfe als Siegerin hervorgeht, wie dies
in der Geschichte der neuern deutschen Kunst bei dem Bekannt¬
werden der "belgischen Bilder" der Fall ist. In der That hat keine Schöpfung
der bildenden Kunst in unserm Jahrhundert eine solche Revolution in den be¬
stehenden Anschauungen, eine solche Erregung der Gemüter, einen solchen
Widerstreit der ästhetischen Ansichten hervorgerufen wie die Ölgemälde Louis
Gcillaits (Die Abdankung Karls V. zu Brüssel im Jahre 1S55) und de Biöfres
(Der Kompromiß der niederländischen Edeln), welche im Jahre 1842 ihren
Triumphzug dnrch die Ausstellungen aller größern Kunststätte Deutschlands
antraten.

Bis zu dieser Zeit war die Herrschaft der idealistischen Malerei, wie sie
durch Cornelius und die von ihm ins Leben gernfne Münchener Schule ver¬
treten wurde, eine fast unbeschränkte. Die Werke der Münchener Künstler er¬
freuten sich einer ungewöhnlichen Anerkennung und wurden vielfach als das
Höchste gepriesen, was das deutsche Knnstvennögen bisher geschaffen habe. Zwar
entstand in Düsseldorf unter Wilhelm Schadows Leitung eine eigne Maler¬
schule, die im Gegensatze zu den Münchenern mit dem Ansprüche hervortrat,
"malen" zu können, zwar huldigten die Berliner Künstler schon damals kolo¬
ristischen Tendenzen und gingen fleißig in die Schule französischer Meister, aber
weder hier noch da konnten sich die Leistungen mit den monumentalen Schöpfungen
messen, die in der bairischen Hauptstadt unter dem Szepter König Ludwigs I.
ins Leben gerufen wurden.

Da mit cinemmcile trat in den "belgischen Bildern," wie die Gemälde
Gcillaits und de Viefres sofort und kurzweg genannt wurden, eine bis dahin
bei uns unbekannte Kunstweise in den Gesichtskreis der deutschen Kunstfreunde
und erzeugte einen Enthusiasmus, den wir heute kaum noch zu fassen ver¬
mögen. Damals erlitt das Ansehen der Münchener Schule die erste empfind¬
liche Einbuße, und wenn auch der Meister selbst bei seinen Zeichnungen für den
(!g,mxo 8g,illo in Berlin, unbekümmert um die Tagesströmnngen, seiner idealen
Richtung treu blieb und gerade nach den Anschauungen seiner eifrigsten An-


Analekten zur Geschichte der neuern deutschen Kunst.
von H. A. Lier.
Die Aufnahme der „belgischen Bilder" in Deutschland.

ur selten hat man in der Geschichte des geistigen Lebens die
Möglichkeit, so klar und deutlich den Zeitpunkt zu erkennen, wo
eine neue Richtung der bisher herrschenden entgegentritt und aus
dem nun beginnenden Kampfe als Siegerin hervorgeht, wie dies
in der Geschichte der neuern deutschen Kunst bei dem Bekannt¬
werden der „belgischen Bilder" der Fall ist. In der That hat keine Schöpfung
der bildenden Kunst in unserm Jahrhundert eine solche Revolution in den be¬
stehenden Anschauungen, eine solche Erregung der Gemüter, einen solchen
Widerstreit der ästhetischen Ansichten hervorgerufen wie die Ölgemälde Louis
Gcillaits (Die Abdankung Karls V. zu Brüssel im Jahre 1S55) und de Biöfres
(Der Kompromiß der niederländischen Edeln), welche im Jahre 1842 ihren
Triumphzug dnrch die Ausstellungen aller größern Kunststätte Deutschlands
antraten.

Bis zu dieser Zeit war die Herrschaft der idealistischen Malerei, wie sie
durch Cornelius und die von ihm ins Leben gernfne Münchener Schule ver¬
treten wurde, eine fast unbeschränkte. Die Werke der Münchener Künstler er¬
freuten sich einer ungewöhnlichen Anerkennung und wurden vielfach als das
Höchste gepriesen, was das deutsche Knnstvennögen bisher geschaffen habe. Zwar
entstand in Düsseldorf unter Wilhelm Schadows Leitung eine eigne Maler¬
schule, die im Gegensatze zu den Münchenern mit dem Ansprüche hervortrat,
„malen" zu können, zwar huldigten die Berliner Künstler schon damals kolo¬
ristischen Tendenzen und gingen fleißig in die Schule französischer Meister, aber
weder hier noch da konnten sich die Leistungen mit den monumentalen Schöpfungen
messen, die in der bairischen Hauptstadt unter dem Szepter König Ludwigs I.
ins Leben gerufen wurden.

Da mit cinemmcile trat in den „belgischen Bildern," wie die Gemälde
Gcillaits und de Viefres sofort und kurzweg genannt wurden, eine bis dahin
bei uns unbekannte Kunstweise in den Gesichtskreis der deutschen Kunstfreunde
und erzeugte einen Enthusiasmus, den wir heute kaum noch zu fassen ver¬
mögen. Damals erlitt das Ansehen der Münchener Schule die erste empfind¬
liche Einbuße, und wenn auch der Meister selbst bei seinen Zeichnungen für den
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[0310] Analekten zur Geschichte der neuern deutschen Kunst. von H. A. Lier. Die Aufnahme der „belgischen Bilder" in Deutschland. ur selten hat man in der Geschichte des geistigen Lebens die Möglichkeit, so klar und deutlich den Zeitpunkt zu erkennen, wo eine neue Richtung der bisher herrschenden entgegentritt und aus dem nun beginnenden Kampfe als Siegerin hervorgeht, wie dies in der Geschichte der neuern deutschen Kunst bei dem Bekannt¬ werden der „belgischen Bilder" der Fall ist. In der That hat keine Schöpfung der bildenden Kunst in unserm Jahrhundert eine solche Revolution in den be¬ stehenden Anschauungen, eine solche Erregung der Gemüter, einen solchen Widerstreit der ästhetischen Ansichten hervorgerufen wie die Ölgemälde Louis Gcillaits (Die Abdankung Karls V. zu Brüssel im Jahre 1S55) und de Biöfres (Der Kompromiß der niederländischen Edeln), welche im Jahre 1842 ihren Triumphzug dnrch die Ausstellungen aller größern Kunststätte Deutschlands antraten. Bis zu dieser Zeit war die Herrschaft der idealistischen Malerei, wie sie durch Cornelius und die von ihm ins Leben gernfne Münchener Schule ver¬ treten wurde, eine fast unbeschränkte. Die Werke der Münchener Künstler er¬ freuten sich einer ungewöhnlichen Anerkennung und wurden vielfach als das Höchste gepriesen, was das deutsche Knnstvennögen bisher geschaffen habe. Zwar entstand in Düsseldorf unter Wilhelm Schadows Leitung eine eigne Maler¬ schule, die im Gegensatze zu den Münchenern mit dem Ansprüche hervortrat, „malen" zu können, zwar huldigten die Berliner Künstler schon damals kolo¬ ristischen Tendenzen und gingen fleißig in die Schule französischer Meister, aber weder hier noch da konnten sich die Leistungen mit den monumentalen Schöpfungen messen, die in der bairischen Hauptstadt unter dem Szepter König Ludwigs I. ins Leben gerufen wurden. Da mit cinemmcile trat in den „belgischen Bildern," wie die Gemälde Gcillaits und de Viefres sofort und kurzweg genannt wurden, eine bis dahin bei uns unbekannte Kunstweise in den Gesichtskreis der deutschen Kunstfreunde und erzeugte einen Enthusiasmus, den wir heute kaum noch zu fassen ver¬ mögen. Damals erlitt das Ansehen der Münchener Schule die erste empfind¬ liche Einbuße, und wenn auch der Meister selbst bei seinen Zeichnungen für den (!g,mxo 8g,illo in Berlin, unbekümmert um die Tagesströmnngen, seiner idealen Richtung treu blieb und gerade nach den Anschauungen seiner eifrigsten An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/310>, abgerufen am 30.04.2024.