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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Hartmanns Armer Heinrich.

eit dem Erwachen der germanistische" Studien in der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts ist dem "Armen Heinrich" des hö¬
fischen Dichters Hartmann, eines ritterlichen Dienstmannes der
Herren von Ane, besondre Teilnahme zugewendet worden. Zwar
fühlte sich Goethe, der den Nibelungen, König Rother und andern
mittelhochdeutschen Dichtungen liebevolles Studium widmete und ihre Gestalten
1810 in dem Maskenzüge "Die romantische Poesie" verherrlichte, gerade von
diesem Werke unangenehm abgestoßen. Das "an und für sich betrachtet höchst
schätzenswerte Gedicht," äußerte er in den Tages- und Jahresheften von 1811,
habe ihm "physisch-ästhetischen Schmerz" gebracht. "Den Ekel gegen einen aus¬
sätzige"? Herrn, für den sich das wackerste Mädchen opfert, wird man schwerlich
los; wie denn durchaus ein Jahrhundert, wo die widerwärtigste Krankheit in
einem fort Motive zu leidenschaftlichen Liebes- und Ritterthaten reichen muß,
uns mit Abscheu erfüllt. Die dort einem Heroismus zu grunde liegende schreck¬
liche Krankheit wirkt wenigstens auf mich so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen
Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Allein trotz Goethes
Urteil wurde gerade dieses Gedicht in der Folge das am meisten gelesene der
ganzen deutschen Literatur des Mittelalters, da Adalbert von Chamisso 1839
eine den Brüdern Grimm gewidmete Bearbeitung im Musenalmanch veröffent¬
lichte, welche dann, in Chamissos Werke aufgenommen, mit ihnen allgemeine
Verbreitung fand. Ja das Werk, welches schon als Dichtung ans Goethes
Phantasie einen so widrigen Eindruck machte, wurde vor einigen Jahren (1877)
sogar mit Illustrationen herausgegeben. Welchen unmutsvollen Tadel würde
Goethe, der lebenslang an den Kunstlehren des Lessingschen Laokoon fest¬
hielt, vollends gegen eine bildliche Darstellung dieses Gedichtes ausgesprochen
haben!

Indes, an und für sich betrachtet, erklärte Goethe das Gedicht für schätzens¬
wert. Und unsre Anerkennung muß sich noch steigern, wenn wir es mit Hartmanns
übrigen Werken vergleichen. Hartmann hat von jeher enthusiastische Bewun-
derer gefunden. Kein geringerer als Gottfried von Straßburg hat die reine,
lautere Rede, die krystallne Sprache des von Ane gepriesen und ihm als dem
Meister der deutschen Epik Kranz und Lorber zugewiesen. Nach der Wieder¬
erweckung der mittelalterlichen Literatur ist Hartmann als Sprachmuster von
der einen Partei unsrer Germanisten geradezu kanonisirt worden; und die Kor¬
rektheit seiner Sprache und Metrik mag wirklich eine tadellose sein. Nur hätte


Hartmanns Armer Heinrich.

eit dem Erwachen der germanistische» Studien in der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts ist dem „Armen Heinrich" des hö¬
fischen Dichters Hartmann, eines ritterlichen Dienstmannes der
Herren von Ane, besondre Teilnahme zugewendet worden. Zwar
fühlte sich Goethe, der den Nibelungen, König Rother und andern
mittelhochdeutschen Dichtungen liebevolles Studium widmete und ihre Gestalten
1810 in dem Maskenzüge „Die romantische Poesie" verherrlichte, gerade von
diesem Werke unangenehm abgestoßen. Das „an und für sich betrachtet höchst
schätzenswerte Gedicht," äußerte er in den Tages- und Jahresheften von 1811,
habe ihm „physisch-ästhetischen Schmerz" gebracht. „Den Ekel gegen einen aus¬
sätzige«? Herrn, für den sich das wackerste Mädchen opfert, wird man schwerlich
los; wie denn durchaus ein Jahrhundert, wo die widerwärtigste Krankheit in
einem fort Motive zu leidenschaftlichen Liebes- und Ritterthaten reichen muß,
uns mit Abscheu erfüllt. Die dort einem Heroismus zu grunde liegende schreck¬
liche Krankheit wirkt wenigstens auf mich so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen
Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Allein trotz Goethes
Urteil wurde gerade dieses Gedicht in der Folge das am meisten gelesene der
ganzen deutschen Literatur des Mittelalters, da Adalbert von Chamisso 1839
eine den Brüdern Grimm gewidmete Bearbeitung im Musenalmanch veröffent¬
lichte, welche dann, in Chamissos Werke aufgenommen, mit ihnen allgemeine
Verbreitung fand. Ja das Werk, welches schon als Dichtung ans Goethes
Phantasie einen so widrigen Eindruck machte, wurde vor einigen Jahren (1877)
sogar mit Illustrationen herausgegeben. Welchen unmutsvollen Tadel würde
Goethe, der lebenslang an den Kunstlehren des Lessingschen Laokoon fest¬
hielt, vollends gegen eine bildliche Darstellung dieses Gedichtes ausgesprochen
haben!

Indes, an und für sich betrachtet, erklärte Goethe das Gedicht für schätzens¬
wert. Und unsre Anerkennung muß sich noch steigern, wenn wir es mit Hartmanns
übrigen Werken vergleichen. Hartmann hat von jeher enthusiastische Bewun-
derer gefunden. Kein geringerer als Gottfried von Straßburg hat die reine,
lautere Rede, die krystallne Sprache des von Ane gepriesen und ihm als dem
Meister der deutschen Epik Kranz und Lorber zugewiesen. Nach der Wieder¬
erweckung der mittelalterlichen Literatur ist Hartmann als Sprachmuster von
der einen Partei unsrer Germanisten geradezu kanonisirt worden; und die Kor¬
rektheit seiner Sprache und Metrik mag wirklich eine tadellose sein. Nur hätte


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[0412] Hartmanns Armer Heinrich. eit dem Erwachen der germanistische» Studien in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist dem „Armen Heinrich" des hö¬ fischen Dichters Hartmann, eines ritterlichen Dienstmannes der Herren von Ane, besondre Teilnahme zugewendet worden. Zwar fühlte sich Goethe, der den Nibelungen, König Rother und andern mittelhochdeutschen Dichtungen liebevolles Studium widmete und ihre Gestalten 1810 in dem Maskenzüge „Die romantische Poesie" verherrlichte, gerade von diesem Werke unangenehm abgestoßen. Das „an und für sich betrachtet höchst schätzenswerte Gedicht," äußerte er in den Tages- und Jahresheften von 1811, habe ihm „physisch-ästhetischen Schmerz" gebracht. „Den Ekel gegen einen aus¬ sätzige«? Herrn, für den sich das wackerste Mädchen opfert, wird man schwerlich los; wie denn durchaus ein Jahrhundert, wo die widerwärtigste Krankheit in einem fort Motive zu leidenschaftlichen Liebes- und Ritterthaten reichen muß, uns mit Abscheu erfüllt. Die dort einem Heroismus zu grunde liegende schreck¬ liche Krankheit wirkt wenigstens auf mich so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Allein trotz Goethes Urteil wurde gerade dieses Gedicht in der Folge das am meisten gelesene der ganzen deutschen Literatur des Mittelalters, da Adalbert von Chamisso 1839 eine den Brüdern Grimm gewidmete Bearbeitung im Musenalmanch veröffent¬ lichte, welche dann, in Chamissos Werke aufgenommen, mit ihnen allgemeine Verbreitung fand. Ja das Werk, welches schon als Dichtung ans Goethes Phantasie einen so widrigen Eindruck machte, wurde vor einigen Jahren (1877) sogar mit Illustrationen herausgegeben. Welchen unmutsvollen Tadel würde Goethe, der lebenslang an den Kunstlehren des Lessingschen Laokoon fest¬ hielt, vollends gegen eine bildliche Darstellung dieses Gedichtes ausgesprochen haben! Indes, an und für sich betrachtet, erklärte Goethe das Gedicht für schätzens¬ wert. Und unsre Anerkennung muß sich noch steigern, wenn wir es mit Hartmanns übrigen Werken vergleichen. Hartmann hat von jeher enthusiastische Bewun- derer gefunden. Kein geringerer als Gottfried von Straßburg hat die reine, lautere Rede, die krystallne Sprache des von Ane gepriesen und ihm als dem Meister der deutschen Epik Kranz und Lorber zugewiesen. Nach der Wieder¬ erweckung der mittelalterlichen Literatur ist Hartmann als Sprachmuster von der einen Partei unsrer Germanisten geradezu kanonisirt worden; und die Kor¬ rektheit seiner Sprache und Metrik mag wirklich eine tadellose sein. Nur hätte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/412>, abgerufen am 30.04.2024.