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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Lrcmch und Mißbrauch.

daran Goethen wie lebend näher fühlen, als es durch Papier und Druckerschwärze
möglich ist. Hätte ich ihn nur erst!


F. V.


Brauch und Mißbrauch.

nsre Zeit hat es zu einer bemerkenswerten Fertigkeit in der Kunst
gebracht, schöne Gebrauche in Mißbräuche, nützliche Bestrebungen
durch Übertreibung in ihr Gegenteil zu verwandeln. Eine lange
Liste von Belegen zu dieser Behauptung beizubringen, würde nie¬
mand in Verlegenheit sein, der mit einiger Aufmerksamkeit den
Vorgängen des Tages folgt; wir wollen für diesmal nur zwei Fälle heraus¬
greifen, welche ganz besonders den Vorzug der "Aktualität" genießen.

Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, daß die Übung und Steigerung
der Körperkräfte in Deutschland wieder als Erfordernis einer vernünftigen Er¬
ziehung anerkannt wird. Das Turnen war als hochverräterische Beschäftigung
geächtet, Schwimmen und Rudern wurde vernachlässigt, Gelegenheit zum Reiten,
einer.Kunst, welche noch im Anfange unsers Jahrhunderts jedermann verstand,
hatten fast nur noch der Soldat und der Landwirt, und systematisches Fu߬
wandern fand beinahe nur bei der akademischen Jugend Pflege, seitdem auch der
Handwerksbursche auf der Eisenbahn "wanderte." Doch sollte gerade die Eisen¬
bahn einem eignen Zweige der Wandertechnik zu einem früher ungeahntem Auf¬
schwünge verhelfen, dem Bergesteigen. Was sich früher nur der Bewohner oder
Anwohner einer Gebirgsgegend gewähren konnte, das ist nun jedem ermöglicht.
Die Schienenwege bringen uns in kürzester Zeit aus der Ebne an den Fuß
der Alpen, und in hellen Haufen ziehen namentlich die Großstädter, sobald "der
Schnee von der Alm weggeht," in Lodenjoppe, Lederhosen und Bundschuhe",
mit Bergstöcken und Steigeisen bewaffnet, aus, um in die Gletscherwelt empor¬
zuklimmen. Und ist das nicht hocherfreulich? Wer möchte dem rüstigen Jüng¬
linge mißgönnen, in der erhabnen Bergnatnr den Dunst und Staub und die
Mühsal des städtischen Alltagslebens abzuschütteln, in der reinen Luft die
Brust auszuweiden, das arbeitsmüde Ange zu erquicken an dem kräftigen Grün
der Matten, die Spannkraft der Muskeln zu üben in mühsamem Aufstieg, für
den (wenn das Glück gut ist) ein Blick in ungemessene Fernen ans die im
Abendlicht glühenden Schneehüupter entschädigt. Gewiß keiner, der selbst jemals
diese Lust gekostet hat.


Lrcmch und Mißbrauch.

daran Goethen wie lebend näher fühlen, als es durch Papier und Druckerschwärze
möglich ist. Hätte ich ihn nur erst!


F. V.


Brauch und Mißbrauch.

nsre Zeit hat es zu einer bemerkenswerten Fertigkeit in der Kunst
gebracht, schöne Gebrauche in Mißbräuche, nützliche Bestrebungen
durch Übertreibung in ihr Gegenteil zu verwandeln. Eine lange
Liste von Belegen zu dieser Behauptung beizubringen, würde nie¬
mand in Verlegenheit sein, der mit einiger Aufmerksamkeit den
Vorgängen des Tages folgt; wir wollen für diesmal nur zwei Fälle heraus¬
greifen, welche ganz besonders den Vorzug der „Aktualität" genießen.

Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, daß die Übung und Steigerung
der Körperkräfte in Deutschland wieder als Erfordernis einer vernünftigen Er¬
ziehung anerkannt wird. Das Turnen war als hochverräterische Beschäftigung
geächtet, Schwimmen und Rudern wurde vernachlässigt, Gelegenheit zum Reiten,
einer.Kunst, welche noch im Anfange unsers Jahrhunderts jedermann verstand,
hatten fast nur noch der Soldat und der Landwirt, und systematisches Fu߬
wandern fand beinahe nur bei der akademischen Jugend Pflege, seitdem auch der
Handwerksbursche auf der Eisenbahn „wanderte." Doch sollte gerade die Eisen¬
bahn einem eignen Zweige der Wandertechnik zu einem früher ungeahntem Auf¬
schwünge verhelfen, dem Bergesteigen. Was sich früher nur der Bewohner oder
Anwohner einer Gebirgsgegend gewähren konnte, das ist nun jedem ermöglicht.
Die Schienenwege bringen uns in kürzester Zeit aus der Ebne an den Fuß
der Alpen, und in hellen Haufen ziehen namentlich die Großstädter, sobald „der
Schnee von der Alm weggeht," in Lodenjoppe, Lederhosen und Bundschuhe»,
mit Bergstöcken und Steigeisen bewaffnet, aus, um in die Gletscherwelt empor¬
zuklimmen. Und ist das nicht hocherfreulich? Wer möchte dem rüstigen Jüng¬
linge mißgönnen, in der erhabnen Bergnatnr den Dunst und Staub und die
Mühsal des städtischen Alltagslebens abzuschütteln, in der reinen Luft die
Brust auszuweiden, das arbeitsmüde Ange zu erquicken an dem kräftigen Grün
der Matten, die Spannkraft der Muskeln zu üben in mühsamem Aufstieg, für
den (wenn das Glück gut ist) ein Blick in ungemessene Fernen ans die im
Abendlicht glühenden Schneehüupter entschädigt. Gewiß keiner, der selbst jemals
diese Lust gekostet hat.


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[0421] Lrcmch und Mißbrauch. daran Goethen wie lebend näher fühlen, als es durch Papier und Druckerschwärze möglich ist. Hätte ich ihn nur erst! F. V. Brauch und Mißbrauch. nsre Zeit hat es zu einer bemerkenswerten Fertigkeit in der Kunst gebracht, schöne Gebrauche in Mißbräuche, nützliche Bestrebungen durch Übertreibung in ihr Gegenteil zu verwandeln. Eine lange Liste von Belegen zu dieser Behauptung beizubringen, würde nie¬ mand in Verlegenheit sein, der mit einiger Aufmerksamkeit den Vorgängen des Tages folgt; wir wollen für diesmal nur zwei Fälle heraus¬ greifen, welche ganz besonders den Vorzug der „Aktualität" genießen. Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, daß die Übung und Steigerung der Körperkräfte in Deutschland wieder als Erfordernis einer vernünftigen Er¬ ziehung anerkannt wird. Das Turnen war als hochverräterische Beschäftigung geächtet, Schwimmen und Rudern wurde vernachlässigt, Gelegenheit zum Reiten, einer.Kunst, welche noch im Anfange unsers Jahrhunderts jedermann verstand, hatten fast nur noch der Soldat und der Landwirt, und systematisches Fu߬ wandern fand beinahe nur bei der akademischen Jugend Pflege, seitdem auch der Handwerksbursche auf der Eisenbahn „wanderte." Doch sollte gerade die Eisen¬ bahn einem eignen Zweige der Wandertechnik zu einem früher ungeahntem Auf¬ schwünge verhelfen, dem Bergesteigen. Was sich früher nur der Bewohner oder Anwohner einer Gebirgsgegend gewähren konnte, das ist nun jedem ermöglicht. Die Schienenwege bringen uns in kürzester Zeit aus der Ebne an den Fuß der Alpen, und in hellen Haufen ziehen namentlich die Großstädter, sobald „der Schnee von der Alm weggeht," in Lodenjoppe, Lederhosen und Bundschuhe», mit Bergstöcken und Steigeisen bewaffnet, aus, um in die Gletscherwelt empor¬ zuklimmen. Und ist das nicht hocherfreulich? Wer möchte dem rüstigen Jüng¬ linge mißgönnen, in der erhabnen Bergnatnr den Dunst und Staub und die Mühsal des städtischen Alltagslebens abzuschütteln, in der reinen Luft die Brust auszuweiden, das arbeitsmüde Ange zu erquicken an dem kräftigen Grün der Matten, die Spannkraft der Muskeln zu üben in mühsamem Aufstieg, für den (wenn das Glück gut ist) ein Blick in ungemessene Fernen ans die im Abendlicht glühenden Schneehüupter entschädigt. Gewiß keiner, der selbst jemals diese Lust gekostet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/421>, abgerufen am 30.04.2024.