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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Englische Musik.

le Meinung über die englische Musik steht auf dem Festlande seit
lauger Zeit fest; sie ist, in Deutschland zumal, eine kurzhin abfällige.

Wir messen die musikalische Bedeutung eines fremden Landes
in erster Linie an seinen Kompositionen, und bei diesem Maßstabe
bleibt England unter dem Nullpunkte. Es hat Komponisten, es hat
Kompositionen, aber diese werden sogut wie nicht exportirt, sie sind größtenteils
nicht exportfähig. Das war nicht immer so. Vor zwei und drei Jahrhunderten
hatte England seine schaffenden Tonkünstler, welche neben den besten des Fest¬
landes genannt werden durften. Da lebte Henry Purcell (1658 bis 1695),
den sie heute noch den britischen Orpheus nennen und noch heute praktisch ver¬
ehren, d. h. durch schöne Gesamtausgaben seiner Werke und durch Aufführung
derselben. Er war einer der ersten Engländer, welche Opern schrieben, Opern,
die dramatisches Leben haben und sich namentlich durch reizende Chöre aus¬
zeichnen. Noch bedeutender sind seine Kirchenkompositionen; in erster Linie das
große, noch heute vielfach zu Gehör gebrachte Tedeum. Man traut dem auf¬
fallend sinnlichen Gesichte des Künstlers die tiefen Züge kaum zu, welche in
diesen Werken leben.

Eine noch höhere Stellung als die Werke Pureells nehmen auf dem Ge¬
biete der mittelalterlichen Vokalkompositivn die englischen Madrigale ein.
W. Bind, John Dvwland, Thomas Morley, John Wilbye sind die Haupt¬
vertreter dieser Gattung. Es waren sehr kunstreiche Männer. In der Manu-
siriptensmnmluug bedeutender Komponisten (sie ist so reichhaltig, daß auch manche
unbedeutende ein Plätzchen fanden), welche gegenwärtig in Verbindung mit
der großartigen Ausstellung von Erfindungen in Kensington (Albert-Hall)
zur Schau steht, lockt kein Stück die Besucher so an wie ein Blatt in Riesen-
fvlio von der Hand jenes Wilbye beschrieben. Es ist das Fragment eines
Psalmes, den er für vierzigstimmigen Chor !^ eÄWvllir komponirt hat: ein
Beweis, daß die englischen Komponisten jener Zeit sich ans die Technik und
den Prachtbau der venetianischen Tonschnle gleichfalls verstanden. Was wir
aber an den englischen Madrigalen jener Periode besonders schätzen, das ist
ihr menschlich anheimelnder Ton: das warme Gemüt, die einfache, echte Herzlich¬
keit und die zuweilen drastische Lustigkeit, welche ihren Inhalt bilden. Die
schönste Seite des englischen Nationalcharakters kommt in ihnen zum Ausdruck,
wie sie auch noch heute im Familienleben von morr/ (M Lu^ma lebt. Seit
mehreren Jahren sind diese hübschen Kunstwerke aus dem historischen Käfig
wieder erlöst worden. Eine Anzahl ist auch in Deutschland durch die Ausgabe
des Münchner Kustos I. I. Maier bekannt und beliebt geworden.


Englische Musik.

le Meinung über die englische Musik steht auf dem Festlande seit
lauger Zeit fest; sie ist, in Deutschland zumal, eine kurzhin abfällige.

Wir messen die musikalische Bedeutung eines fremden Landes
in erster Linie an seinen Kompositionen, und bei diesem Maßstabe
bleibt England unter dem Nullpunkte. Es hat Komponisten, es hat
Kompositionen, aber diese werden sogut wie nicht exportirt, sie sind größtenteils
nicht exportfähig. Das war nicht immer so. Vor zwei und drei Jahrhunderten
hatte England seine schaffenden Tonkünstler, welche neben den besten des Fest¬
landes genannt werden durften. Da lebte Henry Purcell (1658 bis 1695),
den sie heute noch den britischen Orpheus nennen und noch heute praktisch ver¬
ehren, d. h. durch schöne Gesamtausgaben seiner Werke und durch Aufführung
derselben. Er war einer der ersten Engländer, welche Opern schrieben, Opern,
die dramatisches Leben haben und sich namentlich durch reizende Chöre aus¬
zeichnen. Noch bedeutender sind seine Kirchenkompositionen; in erster Linie das
große, noch heute vielfach zu Gehör gebrachte Tedeum. Man traut dem auf¬
fallend sinnlichen Gesichte des Künstlers die tiefen Züge kaum zu, welche in
diesen Werken leben.

Eine noch höhere Stellung als die Werke Pureells nehmen auf dem Ge¬
biete der mittelalterlichen Vokalkompositivn die englischen Madrigale ein.
W. Bind, John Dvwland, Thomas Morley, John Wilbye sind die Haupt¬
vertreter dieser Gattung. Es waren sehr kunstreiche Männer. In der Manu-
siriptensmnmluug bedeutender Komponisten (sie ist so reichhaltig, daß auch manche
unbedeutende ein Plätzchen fanden), welche gegenwärtig in Verbindung mit
der großartigen Ausstellung von Erfindungen in Kensington (Albert-Hall)
zur Schau steht, lockt kein Stück die Besucher so an wie ein Blatt in Riesen-
fvlio von der Hand jenes Wilbye beschrieben. Es ist das Fragment eines
Psalmes, den er für vierzigstimmigen Chor !^ eÄWvllir komponirt hat: ein
Beweis, daß die englischen Komponisten jener Zeit sich ans die Technik und
den Prachtbau der venetianischen Tonschnle gleichfalls verstanden. Was wir
aber an den englischen Madrigalen jener Periode besonders schätzen, das ist
ihr menschlich anheimelnder Ton: das warme Gemüt, die einfache, echte Herzlich¬
keit und die zuweilen drastische Lustigkeit, welche ihren Inhalt bilden. Die
schönste Seite des englischen Nationalcharakters kommt in ihnen zum Ausdruck,
wie sie auch noch heute im Familienleben von morr/ (M Lu^ma lebt. Seit
mehreren Jahren sind diese hübschen Kunstwerke aus dem historischen Käfig
wieder erlöst worden. Eine Anzahl ist auch in Deutschland durch die Ausgabe
des Münchner Kustos I. I. Maier bekannt und beliebt geworden.


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[0527] Englische Musik. le Meinung über die englische Musik steht auf dem Festlande seit lauger Zeit fest; sie ist, in Deutschland zumal, eine kurzhin abfällige. Wir messen die musikalische Bedeutung eines fremden Landes in erster Linie an seinen Kompositionen, und bei diesem Maßstabe bleibt England unter dem Nullpunkte. Es hat Komponisten, es hat Kompositionen, aber diese werden sogut wie nicht exportirt, sie sind größtenteils nicht exportfähig. Das war nicht immer so. Vor zwei und drei Jahrhunderten hatte England seine schaffenden Tonkünstler, welche neben den besten des Fest¬ landes genannt werden durften. Da lebte Henry Purcell (1658 bis 1695), den sie heute noch den britischen Orpheus nennen und noch heute praktisch ver¬ ehren, d. h. durch schöne Gesamtausgaben seiner Werke und durch Aufführung derselben. Er war einer der ersten Engländer, welche Opern schrieben, Opern, die dramatisches Leben haben und sich namentlich durch reizende Chöre aus¬ zeichnen. Noch bedeutender sind seine Kirchenkompositionen; in erster Linie das große, noch heute vielfach zu Gehör gebrachte Tedeum. Man traut dem auf¬ fallend sinnlichen Gesichte des Künstlers die tiefen Züge kaum zu, welche in diesen Werken leben. Eine noch höhere Stellung als die Werke Pureells nehmen auf dem Ge¬ biete der mittelalterlichen Vokalkompositivn die englischen Madrigale ein. W. Bind, John Dvwland, Thomas Morley, John Wilbye sind die Haupt¬ vertreter dieser Gattung. Es waren sehr kunstreiche Männer. In der Manu- siriptensmnmluug bedeutender Komponisten (sie ist so reichhaltig, daß auch manche unbedeutende ein Plätzchen fanden), welche gegenwärtig in Verbindung mit der großartigen Ausstellung von Erfindungen in Kensington (Albert-Hall) zur Schau steht, lockt kein Stück die Besucher so an wie ein Blatt in Riesen- fvlio von der Hand jenes Wilbye beschrieben. Es ist das Fragment eines Psalmes, den er für vierzigstimmigen Chor !^ eÄWvllir komponirt hat: ein Beweis, daß die englischen Komponisten jener Zeit sich ans die Technik und den Prachtbau der venetianischen Tonschnle gleichfalls verstanden. Was wir aber an den englischen Madrigalen jener Periode besonders schätzen, das ist ihr menschlich anheimelnder Ton: das warme Gemüt, die einfache, echte Herzlich¬ keit und die zuweilen drastische Lustigkeit, welche ihren Inhalt bilden. Die schönste Seite des englischen Nationalcharakters kommt in ihnen zum Ausdruck, wie sie auch noch heute im Familienleben von morr/ (M Lu^ma lebt. Seit mehreren Jahren sind diese hübschen Kunstwerke aus dem historischen Käfig wieder erlöst worden. Eine Anzahl ist auch in Deutschland durch die Ausgabe des Münchner Kustos I. I. Maier bekannt und beliebt geworden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/527>, abgerufen am 30.04.2024.