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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
von Georg Weber.
1.

is ich vor kurzem das umfangreiche Werk "Geschichte der deutscheu
Historiographie" von Franz Tavcr von Wegele in den beiden
letzten Büchern durchlas, hatte ich den lebhaften Eindruck, daß
die Geschichtschreibung im allgemeinen noch sehr weit vou einer
systematischen Wissenschaft entfernt sei, daß sowohl über Form
und Methode als über Zweck und Aufgabe die Ansichten weit auseinander
gingen. Es ist allerdings sehr schwer, einen so gewaltigen Stoff wie die
Menschen- und Völkergeschichte, der mehr als irgendein andres Gebiet des
schaffenden Geistes sich in ewigem Fluß bewegt, in den festen Rahmen eines
wissenschaftlichen Systems zu fassen. Die Geschichte gleicht einem mächtigen
Strome, der nach ewigen Naturgesetzen dahinrauscht, dem äußern Scheine nach
immer derselbe und doch in jedem Momente ein andrer. Sie geht vor allem
den lebendigen Kräften nach, durch deren Wirken die Erfolge errungen werden,
und als einheitliche Wissenschaft sucht sie in dem Spiele der Kräfte und der
bunten Fülle der Erfolge einen feste" Zusammenhang, gegeben dnrch die Einheit
der Ursache und des Zweckes.

Der germanische Sprachgcist faßt die Geschichte als die Summe und den
Inbegriff alles dessen, was im Laufe der Zeiten wichtiges geschehen ist. Den
Griechen war die Geschichte das Resultat des Erforschten und Erfahrenen; ihnen
folgten die Römer und die neuern Völker romanischer Zunge; sie bezeichnen
die Geschichte als llistori". Dort erscheint somit die Geschichte als eine Zu¬
sammenstellung von Thatsachen als Objcltenwclt, hier tritt das Subjekt in den
Vordergrund: Geschichte ist nach dieser Bezeichnung der Inhalt dessen, was der
Forscher und Erzähler erfahren hat. Der Begriff einer objektiven und subjektiven
Auffassung, ein dualistisches Prinzip, steht demnach schon an der Eingangspforte
zum Tempel der Klio, wie zwei symbolische Figuren vor einem verschlossenen
Heiligtum, gleich notwendigen Tragsänleu des Gebäudes. Schon in den Namen
ist angedeutet, daß die Geschichte zu einem architektonischen und harmonischen
Werke ein Zusammentragen und Jneiuauderfügcu vou Bausteinen bedürfe. Jenes
Geschäft legt den Hauptwerk auf den Stoff, das Material, die Objekte; dieses
auf die Form, die subjektive Gestaltung. Bei jenem kommt es mehr auf das
siebte" und die kritische Prüfung an, bei diesem mehr ans das Schönheits¬
gefühl und die schöpferische Intuition; dort sind Wissenschaft und Verstand, hier


Grcnzlwtt'n I. 1886 32
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
von Georg Weber.
1.

is ich vor kurzem das umfangreiche Werk „Geschichte der deutscheu
Historiographie" von Franz Tavcr von Wegele in den beiden
letzten Büchern durchlas, hatte ich den lebhaften Eindruck, daß
die Geschichtschreibung im allgemeinen noch sehr weit vou einer
systematischen Wissenschaft entfernt sei, daß sowohl über Form
und Methode als über Zweck und Aufgabe die Ansichten weit auseinander
gingen. Es ist allerdings sehr schwer, einen so gewaltigen Stoff wie die
Menschen- und Völkergeschichte, der mehr als irgendein andres Gebiet des
schaffenden Geistes sich in ewigem Fluß bewegt, in den festen Rahmen eines
wissenschaftlichen Systems zu fassen. Die Geschichte gleicht einem mächtigen
Strome, der nach ewigen Naturgesetzen dahinrauscht, dem äußern Scheine nach
immer derselbe und doch in jedem Momente ein andrer. Sie geht vor allem
den lebendigen Kräften nach, durch deren Wirken die Erfolge errungen werden,
und als einheitliche Wissenschaft sucht sie in dem Spiele der Kräfte und der
bunten Fülle der Erfolge einen feste» Zusammenhang, gegeben dnrch die Einheit
der Ursache und des Zweckes.

Der germanische Sprachgcist faßt die Geschichte als die Summe und den
Inbegriff alles dessen, was im Laufe der Zeiten wichtiges geschehen ist. Den
Griechen war die Geschichte das Resultat des Erforschten und Erfahrenen; ihnen
folgten die Römer und die neuern Völker romanischer Zunge; sie bezeichnen
die Geschichte als llistori». Dort erscheint somit die Geschichte als eine Zu¬
sammenstellung von Thatsachen als Objcltenwclt, hier tritt das Subjekt in den
Vordergrund: Geschichte ist nach dieser Bezeichnung der Inhalt dessen, was der
Forscher und Erzähler erfahren hat. Der Begriff einer objektiven und subjektiven
Auffassung, ein dualistisches Prinzip, steht demnach schon an der Eingangspforte
zum Tempel der Klio, wie zwei symbolische Figuren vor einem verschlossenen
Heiligtum, gleich notwendigen Tragsänleu des Gebäudes. Schon in den Namen
ist angedeutet, daß die Geschichte zu einem architektonischen und harmonischen
Werke ein Zusammentragen und Jneiuauderfügcu vou Bausteinen bedürfe. Jenes
Geschäft legt den Hauptwerk auf den Stoff, das Material, die Objekte; dieses
auf die Form, die subjektive Gestaltung. Bei jenem kommt es mehr auf das
siebte» und die kritische Prüfung an, bei diesem mehr ans das Schönheits¬
gefühl und die schöpferische Intuition; dort sind Wissenschaft und Verstand, hier


Grcnzlwtt'n I. 1886 32
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[0257] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. von Georg Weber. 1. is ich vor kurzem das umfangreiche Werk „Geschichte der deutscheu Historiographie" von Franz Tavcr von Wegele in den beiden letzten Büchern durchlas, hatte ich den lebhaften Eindruck, daß die Geschichtschreibung im allgemeinen noch sehr weit vou einer systematischen Wissenschaft entfernt sei, daß sowohl über Form und Methode als über Zweck und Aufgabe die Ansichten weit auseinander gingen. Es ist allerdings sehr schwer, einen so gewaltigen Stoff wie die Menschen- und Völkergeschichte, der mehr als irgendein andres Gebiet des schaffenden Geistes sich in ewigem Fluß bewegt, in den festen Rahmen eines wissenschaftlichen Systems zu fassen. Die Geschichte gleicht einem mächtigen Strome, der nach ewigen Naturgesetzen dahinrauscht, dem äußern Scheine nach immer derselbe und doch in jedem Momente ein andrer. Sie geht vor allem den lebendigen Kräften nach, durch deren Wirken die Erfolge errungen werden, und als einheitliche Wissenschaft sucht sie in dem Spiele der Kräfte und der bunten Fülle der Erfolge einen feste» Zusammenhang, gegeben dnrch die Einheit der Ursache und des Zweckes. Der germanische Sprachgcist faßt die Geschichte als die Summe und den Inbegriff alles dessen, was im Laufe der Zeiten wichtiges geschehen ist. Den Griechen war die Geschichte das Resultat des Erforschten und Erfahrenen; ihnen folgten die Römer und die neuern Völker romanischer Zunge; sie bezeichnen die Geschichte als llistori». Dort erscheint somit die Geschichte als eine Zu¬ sammenstellung von Thatsachen als Objcltenwclt, hier tritt das Subjekt in den Vordergrund: Geschichte ist nach dieser Bezeichnung der Inhalt dessen, was der Forscher und Erzähler erfahren hat. Der Begriff einer objektiven und subjektiven Auffassung, ein dualistisches Prinzip, steht demnach schon an der Eingangspforte zum Tempel der Klio, wie zwei symbolische Figuren vor einem verschlossenen Heiligtum, gleich notwendigen Tragsänleu des Gebäudes. Schon in den Namen ist angedeutet, daß die Geschichte zu einem architektonischen und harmonischen Werke ein Zusammentragen und Jneiuauderfügcu vou Bausteinen bedürfe. Jenes Geschäft legt den Hauptwerk auf den Stoff, das Material, die Objekte; dieses auf die Form, die subjektive Gestaltung. Bei jenem kommt es mehr auf das siebte» und die kritische Prüfung an, bei diesem mehr ans das Schönheits¬ gefühl und die schöpferische Intuition; dort sind Wissenschaft und Verstand, hier Grcnzlwtt'n I. 1886 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/257>, abgerufen am 19.05.2024.