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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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ausgesprochen, die eine ähnliche Auffassung andeuten: "Den geheimnisvollen
Dualismus, der in dem sittlichen Leben unsers stcmbgebornen und gottver¬
wandten Geschlechtes unverkennbar waltet, suchte Humboldt dadurch zu erklären,
daß er eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm,
Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der
Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe zu, das
Geschehene thatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt zu verbinden,
daß die Notwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Ratschlüsse der göttlichen
Weltregierung erkannt würden. Es war eine großartige Ansicht, die zugleich
mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der
Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der Geschichtschreibung großen Stiles
ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst." Je-
mehr nun der Urheber von seinem Stoffe stärker oder leichter berührt wird,
sei es infolge seiner individuellen Geistes- und Gemütsstimmung, sei es infolge
seiner Stellung zu den Menschen und Dingen, die er behandelt, umso schärfer
und sichtbarer tritt die innere Teilnahme, treten die Affekte der Seele zu Tage,
destomehr offenbart sich das Pathos, von dem der Darsteller erfüllt ist, auch
in seinem Werke. Die wahre Geschichtschreibung wird immer durchfühlen lassen,
daß der Verfasser etwas von seinem eignen Herzblute einfließen läßt. Nur der
Annalist oder Negcstensammler, nur der Chronist, sofern er bloß vergangne
Dinge wiederholt, nicht in seine eigne Zeit herabsteigt, darf ganz objektiv ver¬
fahren, jeder andre Historiker dagegen, der das Gebiet der Kunst beschreitet, bei
dem der Stoff den Weg durch das Herz, durch den inwendigen Menschen macht,
wird mehr oder minder den subjektiven Anteil verraten, den er an dem geschicht¬
lichen Hergange nimmt. Und da es nun einmal im Menschenleben so einge¬
richtet ist, daß der Historiker mehr Trübes als Heiteres zu erzählen, mehr von
Unfällen als von Glück zu berichten hat, so zieht dnrch die "leisten Geschichts¬
bücher ein ernster, oft pessimistischer Grundton.

Selbst das ästhetische Wohlgefallen, das der Leser bei der kunstvollen Dar¬
stellung, bei der Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Erzählung empfinden mag,
wird das Gefühl des Ernstes, der Wehmut der traurigen Eindrücke über die
Fülle und Macht des Bösen und Unheilvollen in der Menschenwelt nicht zu
überwinden imstande sein. Die Klio ist eine strenge Muse; sie übt zugleich
das Amt des Anklägers und des Richters und schöpft ihr Urteil aus den
Sprüchen, welche die himmlischen Mächte am Firmamente niedergeschrieben
haben. In diesem Sinne behält der Spruch des Dichters: "Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht" seine Wahrheit. Über der Wandelbarkeit menschlicher Urteile
waltet die ewige, unwandelbare Idee.


2.

Deu erhabnen Maßstab, den uns die antike Geschichte an die Hand giebt,
dürfen wir nicht an die Produktionen des Mittelalters legen. Diese entbehren


ausgesprochen, die eine ähnliche Auffassung andeuten: „Den geheimnisvollen
Dualismus, der in dem sittlichen Leben unsers stcmbgebornen und gottver¬
wandten Geschlechtes unverkennbar waltet, suchte Humboldt dadurch zu erklären,
daß er eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm,
Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der
Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe zu, das
Geschehene thatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt zu verbinden,
daß die Notwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Ratschlüsse der göttlichen
Weltregierung erkannt würden. Es war eine großartige Ansicht, die zugleich
mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der
Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der Geschichtschreibung großen Stiles
ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst." Je-
mehr nun der Urheber von seinem Stoffe stärker oder leichter berührt wird,
sei es infolge seiner individuellen Geistes- und Gemütsstimmung, sei es infolge
seiner Stellung zu den Menschen und Dingen, die er behandelt, umso schärfer
und sichtbarer tritt die innere Teilnahme, treten die Affekte der Seele zu Tage,
destomehr offenbart sich das Pathos, von dem der Darsteller erfüllt ist, auch
in seinem Werke. Die wahre Geschichtschreibung wird immer durchfühlen lassen,
daß der Verfasser etwas von seinem eignen Herzblute einfließen läßt. Nur der
Annalist oder Negcstensammler, nur der Chronist, sofern er bloß vergangne
Dinge wiederholt, nicht in seine eigne Zeit herabsteigt, darf ganz objektiv ver¬
fahren, jeder andre Historiker dagegen, der das Gebiet der Kunst beschreitet, bei
dem der Stoff den Weg durch das Herz, durch den inwendigen Menschen macht,
wird mehr oder minder den subjektiven Anteil verraten, den er an dem geschicht¬
lichen Hergange nimmt. Und da es nun einmal im Menschenleben so einge¬
richtet ist, daß der Historiker mehr Trübes als Heiteres zu erzählen, mehr von
Unfällen als von Glück zu berichten hat, so zieht dnrch die »leisten Geschichts¬
bücher ein ernster, oft pessimistischer Grundton.

Selbst das ästhetische Wohlgefallen, das der Leser bei der kunstvollen Dar¬
stellung, bei der Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Erzählung empfinden mag,
wird das Gefühl des Ernstes, der Wehmut der traurigen Eindrücke über die
Fülle und Macht des Bösen und Unheilvollen in der Menschenwelt nicht zu
überwinden imstande sein. Die Klio ist eine strenge Muse; sie übt zugleich
das Amt des Anklägers und des Richters und schöpft ihr Urteil aus den
Sprüchen, welche die himmlischen Mächte am Firmamente niedergeschrieben
haben. In diesem Sinne behält der Spruch des Dichters: „Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht" seine Wahrheit. Über der Wandelbarkeit menschlicher Urteile
waltet die ewige, unwandelbare Idee.


2.

Deu erhabnen Maßstab, den uns die antike Geschichte an die Hand giebt,
dürfen wir nicht an die Produktionen des Mittelalters legen. Diese entbehren


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[0266] ausgesprochen, die eine ähnliche Auffassung andeuten: „Den geheimnisvollen Dualismus, der in dem sittlichen Leben unsers stcmbgebornen und gottver¬ wandten Geschlechtes unverkennbar waltet, suchte Humboldt dadurch zu erklären, daß er eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm, Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe zu, das Geschehene thatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt zu verbinden, daß die Notwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Ratschlüsse der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine großartige Ansicht, die zugleich mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der Geschichtschreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst." Je- mehr nun der Urheber von seinem Stoffe stärker oder leichter berührt wird, sei es infolge seiner individuellen Geistes- und Gemütsstimmung, sei es infolge seiner Stellung zu den Menschen und Dingen, die er behandelt, umso schärfer und sichtbarer tritt die innere Teilnahme, treten die Affekte der Seele zu Tage, destomehr offenbart sich das Pathos, von dem der Darsteller erfüllt ist, auch in seinem Werke. Die wahre Geschichtschreibung wird immer durchfühlen lassen, daß der Verfasser etwas von seinem eignen Herzblute einfließen läßt. Nur der Annalist oder Negcstensammler, nur der Chronist, sofern er bloß vergangne Dinge wiederholt, nicht in seine eigne Zeit herabsteigt, darf ganz objektiv ver¬ fahren, jeder andre Historiker dagegen, der das Gebiet der Kunst beschreitet, bei dem der Stoff den Weg durch das Herz, durch den inwendigen Menschen macht, wird mehr oder minder den subjektiven Anteil verraten, den er an dem geschicht¬ lichen Hergange nimmt. Und da es nun einmal im Menschenleben so einge¬ richtet ist, daß der Historiker mehr Trübes als Heiteres zu erzählen, mehr von Unfällen als von Glück zu berichten hat, so zieht dnrch die »leisten Geschichts¬ bücher ein ernster, oft pessimistischer Grundton. Selbst das ästhetische Wohlgefallen, das der Leser bei der kunstvollen Dar¬ stellung, bei der Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Erzählung empfinden mag, wird das Gefühl des Ernstes, der Wehmut der traurigen Eindrücke über die Fülle und Macht des Bösen und Unheilvollen in der Menschenwelt nicht zu überwinden imstande sein. Die Klio ist eine strenge Muse; sie übt zugleich das Amt des Anklägers und des Richters und schöpft ihr Urteil aus den Sprüchen, welche die himmlischen Mächte am Firmamente niedergeschrieben haben. In diesem Sinne behält der Spruch des Dichters: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" seine Wahrheit. Über der Wandelbarkeit menschlicher Urteile waltet die ewige, unwandelbare Idee. 2. Deu erhabnen Maßstab, den uns die antike Geschichte an die Hand giebt, dürfen wir nicht an die Produktionen des Mittelalters legen. Diese entbehren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/266>, abgerufen am 29.05.2024.