Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Sein Hauptwerk bleibt der " Schelmuffsky." Es ist jedoch von großem
Interesse zu hören, daß die geniale Figur des Helden bereits vor der Ab¬
fassung des Romans in der ersten von Reuters Komödien, in der Ehrlichen
Frau zu Plissiue (1695), erscheint (Plissine, die Stadt an der Pleiße,
Leipzig). Dort führt der Sohn der ehrlichen Frau Schlampampe, welche keine
andre ist als die verwitwete Frau Müller, diesen Namen. Auch der Schel¬
muffsky der Komödie lehrt angeblich von weiten Reisen zurück und affektirt wie
der des Romans, daß er seine Muttersprache verlernt habe. In der Erzählung
seiner Erlebnisse, namentlich aber in seinen Gesprächen bei Tische, finden wir
bereits alle Grundzüge der spätern Erzählung vorgebildet. Zum Teil ist die
Übereinstimmurg mit den entsprechenden Stellen in der ersten Bearbeitung des
"Schelmuffsky" sogar eine wörtliche.

Diese ältere Fassung ist gleichfalls von Zarucke in einem Exemplare der
Gothaer Bibliothek zuerst entdeckt worden. In gewisser Hinsicht steht sie der
bisher allein bekannten spätern an Wert nicht nach, da sie diskreter nach
Inhalt und Umfang und einfacher im Stil und Satzbau ist. Der eigentliche
Typus wird aber erst in der zweiten Redaktion vollendet, sodaß diese immer
diejenige bleiben wird, nach der man bei der Lektüre zu greifen hat.

Sie ist es auch, von der Brentano in seiner Abhandlung über die
Philister treffend bemerkt: "Es giebt mir keine schärfere Probe der Philistern
als das Nichtverstehen, Nichtbewundern der unbegreiflich reichen und voll-
kommenen Erfindung und äußerst kunstreichen Ausführung in Herrn von Schel-
muffskys Reise zu Wasser und zu Lande. Wer dieses Buch liest, ohne auf
eine Art hingerissen zu werden, ist ein Philister und kommt sicher selbst darin
vor."*)




Die Bilanz der Ehe.

an kann der jetzigen literarischen Bewegung im tiefsten Grunde
ihre Berechtigung nicht absprechen. Sie ist nicht plötzlich ge¬
kommen; wer die Literatur aufmerksam verfolgt, hat sie kommen
und anwachsen sehen. Es hat sich im Lustspiel, im Roman wie
in der Novelle, ja sogar in der naiv thuenden Dorfgeschichte eine
Tradition von Figuren, Motiven und Empfindungen entwickelt, die nachgerade zur
Schablone geworden ist, und dagegen lehnt man sich nun auf. Diese Opposition gegen



*) Von beiden Bearbeitungen besitzen wir jetzt bequeme Ausgaben in den zu Halle a. S.
bei Max Niemeyer erscheinenden "Neudrucken deutscher Liieraturwerke des 16. und 17. Jahr
Hunderts," Ur. 57/58 und Ur. 59.

Sein Hauptwerk bleibt der „ Schelmuffsky." Es ist jedoch von großem
Interesse zu hören, daß die geniale Figur des Helden bereits vor der Ab¬
fassung des Romans in der ersten von Reuters Komödien, in der Ehrlichen
Frau zu Plissiue (1695), erscheint (Plissine, die Stadt an der Pleiße,
Leipzig). Dort führt der Sohn der ehrlichen Frau Schlampampe, welche keine
andre ist als die verwitwete Frau Müller, diesen Namen. Auch der Schel¬
muffsky der Komödie lehrt angeblich von weiten Reisen zurück und affektirt wie
der des Romans, daß er seine Muttersprache verlernt habe. In der Erzählung
seiner Erlebnisse, namentlich aber in seinen Gesprächen bei Tische, finden wir
bereits alle Grundzüge der spätern Erzählung vorgebildet. Zum Teil ist die
Übereinstimmurg mit den entsprechenden Stellen in der ersten Bearbeitung des
„Schelmuffsky" sogar eine wörtliche.

Diese ältere Fassung ist gleichfalls von Zarucke in einem Exemplare der
Gothaer Bibliothek zuerst entdeckt worden. In gewisser Hinsicht steht sie der
bisher allein bekannten spätern an Wert nicht nach, da sie diskreter nach
Inhalt und Umfang und einfacher im Stil und Satzbau ist. Der eigentliche
Typus wird aber erst in der zweiten Redaktion vollendet, sodaß diese immer
diejenige bleiben wird, nach der man bei der Lektüre zu greifen hat.

Sie ist es auch, von der Brentano in seiner Abhandlung über die
Philister treffend bemerkt: „Es giebt mir keine schärfere Probe der Philistern
als das Nichtverstehen, Nichtbewundern der unbegreiflich reichen und voll-
kommenen Erfindung und äußerst kunstreichen Ausführung in Herrn von Schel-
muffskys Reise zu Wasser und zu Lande. Wer dieses Buch liest, ohne auf
eine Art hingerissen zu werden, ist ein Philister und kommt sicher selbst darin
vor."*)




Die Bilanz der Ehe.

an kann der jetzigen literarischen Bewegung im tiefsten Grunde
ihre Berechtigung nicht absprechen. Sie ist nicht plötzlich ge¬
kommen; wer die Literatur aufmerksam verfolgt, hat sie kommen
und anwachsen sehen. Es hat sich im Lustspiel, im Roman wie
in der Novelle, ja sogar in der naiv thuenden Dorfgeschichte eine
Tradition von Figuren, Motiven und Empfindungen entwickelt, die nachgerade zur
Schablone geworden ist, und dagegen lehnt man sich nun auf. Diese Opposition gegen



*) Von beiden Bearbeitungen besitzen wir jetzt bequeme Ausgaben in den zu Halle a. S.
bei Max Niemeyer erscheinenden „Neudrucken deutscher Liieraturwerke des 16. und 17. Jahr
Hunderts," Ur. 57/58 und Ur. 59.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0549" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197973"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1622"> Sein Hauptwerk bleibt der &#x201E; Schelmuffsky." Es ist jedoch von großem<lb/>
Interesse zu hören, daß die geniale Figur des Helden bereits vor der Ab¬<lb/>
fassung des Romans in der ersten von Reuters Komödien, in der Ehrlichen<lb/>
Frau zu Plissiue (1695), erscheint (Plissine, die Stadt an der Pleiße,<lb/>
Leipzig). Dort führt der Sohn der ehrlichen Frau Schlampampe, welche keine<lb/>
andre ist als die verwitwete Frau Müller, diesen Namen. Auch der Schel¬<lb/>
muffsky der Komödie lehrt angeblich von weiten Reisen zurück und affektirt wie<lb/>
der des Romans, daß er seine Muttersprache verlernt habe. In der Erzählung<lb/>
seiner Erlebnisse, namentlich aber in seinen Gesprächen bei Tische, finden wir<lb/>
bereits alle Grundzüge der spätern Erzählung vorgebildet. Zum Teil ist die<lb/>
Übereinstimmurg mit den entsprechenden Stellen in der ersten Bearbeitung des<lb/>
&#x201E;Schelmuffsky" sogar eine wörtliche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1623"> Diese ältere Fassung ist gleichfalls von Zarucke in einem Exemplare der<lb/>
Gothaer Bibliothek zuerst entdeckt worden. In gewisser Hinsicht steht sie der<lb/>
bisher allein bekannten spätern an Wert nicht nach, da sie diskreter nach<lb/>
Inhalt und Umfang und einfacher im Stil und Satzbau ist. Der eigentliche<lb/>
Typus wird aber erst in der zweiten Redaktion vollendet, sodaß diese immer<lb/>
diejenige bleiben wird, nach der man bei der Lektüre zu greifen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1624"> Sie ist es auch, von der Brentano in seiner Abhandlung über die<lb/>
Philister treffend bemerkt: &#x201E;Es giebt mir keine schärfere Probe der Philistern<lb/>
als das Nichtverstehen, Nichtbewundern der unbegreiflich reichen und voll-<lb/>
kommenen Erfindung und äußerst kunstreichen Ausführung in Herrn von Schel-<lb/>
muffskys Reise zu Wasser und zu Lande. Wer dieses Buch liest, ohne auf<lb/>
eine Art hingerissen zu werden, ist ein Philister und kommt sicher selbst darin<lb/>
vor."*)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Bilanz der Ehe.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1625" next="#ID_1626"> an kann der jetzigen literarischen Bewegung im tiefsten Grunde<lb/>
ihre Berechtigung nicht absprechen. Sie ist nicht plötzlich ge¬<lb/>
kommen; wer die Literatur aufmerksam verfolgt, hat sie kommen<lb/>
und anwachsen sehen. Es hat sich im Lustspiel, im Roman wie<lb/>
in der Novelle, ja sogar in der naiv thuenden Dorfgeschichte eine<lb/>
Tradition von Figuren, Motiven und Empfindungen entwickelt, die nachgerade zur<lb/>
Schablone geworden ist, und dagegen lehnt man sich nun auf. Diese Opposition gegen</p><lb/>
          <note xml:id="FID_27" place="foot"> *) Von beiden Bearbeitungen besitzen wir jetzt bequeme Ausgaben in den zu Halle a. S.<lb/>
bei Max Niemeyer erscheinenden &#x201E;Neudrucken deutscher Liieraturwerke des 16. und 17. Jahr<lb/>
Hunderts," Ur. 57/58 und Ur. 59.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0549] Sein Hauptwerk bleibt der „ Schelmuffsky." Es ist jedoch von großem Interesse zu hören, daß die geniale Figur des Helden bereits vor der Ab¬ fassung des Romans in der ersten von Reuters Komödien, in der Ehrlichen Frau zu Plissiue (1695), erscheint (Plissine, die Stadt an der Pleiße, Leipzig). Dort führt der Sohn der ehrlichen Frau Schlampampe, welche keine andre ist als die verwitwete Frau Müller, diesen Namen. Auch der Schel¬ muffsky der Komödie lehrt angeblich von weiten Reisen zurück und affektirt wie der des Romans, daß er seine Muttersprache verlernt habe. In der Erzählung seiner Erlebnisse, namentlich aber in seinen Gesprächen bei Tische, finden wir bereits alle Grundzüge der spätern Erzählung vorgebildet. Zum Teil ist die Übereinstimmurg mit den entsprechenden Stellen in der ersten Bearbeitung des „Schelmuffsky" sogar eine wörtliche. Diese ältere Fassung ist gleichfalls von Zarucke in einem Exemplare der Gothaer Bibliothek zuerst entdeckt worden. In gewisser Hinsicht steht sie der bisher allein bekannten spätern an Wert nicht nach, da sie diskreter nach Inhalt und Umfang und einfacher im Stil und Satzbau ist. Der eigentliche Typus wird aber erst in der zweiten Redaktion vollendet, sodaß diese immer diejenige bleiben wird, nach der man bei der Lektüre zu greifen hat. Sie ist es auch, von der Brentano in seiner Abhandlung über die Philister treffend bemerkt: „Es giebt mir keine schärfere Probe der Philistern als das Nichtverstehen, Nichtbewundern der unbegreiflich reichen und voll- kommenen Erfindung und äußerst kunstreichen Ausführung in Herrn von Schel- muffskys Reise zu Wasser und zu Lande. Wer dieses Buch liest, ohne auf eine Art hingerissen zu werden, ist ein Philister und kommt sicher selbst darin vor."*) Die Bilanz der Ehe. an kann der jetzigen literarischen Bewegung im tiefsten Grunde ihre Berechtigung nicht absprechen. Sie ist nicht plötzlich ge¬ kommen; wer die Literatur aufmerksam verfolgt, hat sie kommen und anwachsen sehen. Es hat sich im Lustspiel, im Roman wie in der Novelle, ja sogar in der naiv thuenden Dorfgeschichte eine Tradition von Figuren, Motiven und Empfindungen entwickelt, die nachgerade zur Schablone geworden ist, und dagegen lehnt man sich nun auf. Diese Opposition gegen *) Von beiden Bearbeitungen besitzen wir jetzt bequeme Ausgaben in den zu Halle a. S. bei Max Niemeyer erscheinenden „Neudrucken deutscher Liieraturwerke des 16. und 17. Jahr Hunderts," Ur. 57/58 und Ur. 59.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/549
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/549>, abgerufen am 19.05.2024.