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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Zum Verständnis und zum Schutze des ersten Faust¬
monologs.
von Heinrich Düntzer.

an erschrickt ordentlich liber das Selbstbewußtsein, mit dem der
krampfhafte Scharfsinn eines der feinsten, kenntnisreichsten und
beredtesten deutschen Literarhistoriker seine Einbildung in Sachen
Goethes dem offnen Thatbestände gegenüber der Welt als un-
zweifelhafte Ergebnisse gewissenhafter Forschung vorspiegelt.
Natürlich fehlt es nicht an gläubigen Anhängern und Schülern, welche ohne
Prüfung diese geistreichen Blüten bewundern, jn sich ans dem morschen Boden
ansiedeln und im Geiste des Meisters, wenn auch mit weniger Begabung, fort-
phautasireu- Was kümmert es sie, dnß dadurch das Bild des Menschen nud
Dichters verzerrt, das Verständnis seiner Werke, statt an Klarheit und Einsicht
zu gewinnen, in trübe Wolken gehüllt wird? Das ehrliche deutsche Gewissen,
ja die Ehre deutscher Wissenschaft fordert ein umso rücksichtsloseres Entgegen¬
treten, je begabter der Mann ist, der die sogenannte Vorsicht als eine mit der
Feigheit verwandte Gelchrtcnnntugcnd verhöhnt und sich von dem Luftschiffe
seiner Einfälle lustig tragen läßt, wohin es diesen gefällt.

Goethe schreibt am t, Mürz 1788 aus Rom, er habe das erste Manuskript
seines "Faust" vor sich, das "in den Hanptszenen gleich so ohne Konzept hin¬
geschrieben" worden sei. Trotzdem und obgleich kein Grund zu der Annahme
gegeben ist, die Äußerung habe ursprünglich anders gelautet, behauptet Scherer,
die ältesten Szenen desselben, die für jeden Unparteiischen die Spuren frischester
Schaffenskraft an sich tragen, seien "ach einem ein paar Jahre ältern prosaischen
EntWurfe ungeschrieben. Sieht man genau zu, so gründet sich diese Annahme
einzig darauf, daß im "Fragment" sich einige reimlose Verse finden, deren gereimte
Fassung dem jungen Dichter nicht habe gelingen wollen. Ohne Goethes eignen
Einspruch zu berücksichtigen, baut Scherer neuerdings (Goethe-Jahrbuch VI,
245--261, "Fausts erster Monolog") aus dieser Grundlage fort, und so hat er
es vermocht, den aus warmer, lebendiger Anschauung des jugendlichen Dichters
geflossenem ersten Monolog, diese gewaltige Darstellung des Dranges nach un¬
mittelbarer Erkenntnis des Wesens von Gott und Welt, die Schelling vor
achtzig Jahren als ewig frischen Quell der Begeisterung gepriesen hat, der allein
zugereicht habe, die Wissenschaft zu verjüngen und den Hauch neuen Lebens z"
verbreiten, dieses dramatische Meisterstück für eine leidige Flickarbeit auszugeben,
für eine Verbindung garnicht zusammengehörender Stücke, deren ursprüngliche


Zum Verständnis und zum Schutze des ersten Faust¬
monologs.
von Heinrich Düntzer.

an erschrickt ordentlich liber das Selbstbewußtsein, mit dem der
krampfhafte Scharfsinn eines der feinsten, kenntnisreichsten und
beredtesten deutschen Literarhistoriker seine Einbildung in Sachen
Goethes dem offnen Thatbestände gegenüber der Welt als un-
zweifelhafte Ergebnisse gewissenhafter Forschung vorspiegelt.
Natürlich fehlt es nicht an gläubigen Anhängern und Schülern, welche ohne
Prüfung diese geistreichen Blüten bewundern, jn sich ans dem morschen Boden
ansiedeln und im Geiste des Meisters, wenn auch mit weniger Begabung, fort-
phautasireu- Was kümmert es sie, dnß dadurch das Bild des Menschen nud
Dichters verzerrt, das Verständnis seiner Werke, statt an Klarheit und Einsicht
zu gewinnen, in trübe Wolken gehüllt wird? Das ehrliche deutsche Gewissen,
ja die Ehre deutscher Wissenschaft fordert ein umso rücksichtsloseres Entgegen¬
treten, je begabter der Mann ist, der die sogenannte Vorsicht als eine mit der
Feigheit verwandte Gelchrtcnnntugcnd verhöhnt und sich von dem Luftschiffe
seiner Einfälle lustig tragen läßt, wohin es diesen gefällt.

Goethe schreibt am t, Mürz 1788 aus Rom, er habe das erste Manuskript
seines „Faust" vor sich, das „in den Hanptszenen gleich so ohne Konzept hin¬
geschrieben" worden sei. Trotzdem und obgleich kein Grund zu der Annahme
gegeben ist, die Äußerung habe ursprünglich anders gelautet, behauptet Scherer,
die ältesten Szenen desselben, die für jeden Unparteiischen die Spuren frischester
Schaffenskraft an sich tragen, seien «ach einem ein paar Jahre ältern prosaischen
EntWurfe ungeschrieben. Sieht man genau zu, so gründet sich diese Annahme
einzig darauf, daß im „Fragment" sich einige reimlose Verse finden, deren gereimte
Fassung dem jungen Dichter nicht habe gelingen wollen. Ohne Goethes eignen
Einspruch zu berücksichtigen, baut Scherer neuerdings (Goethe-Jahrbuch VI,
245—261, „Fausts erster Monolog") aus dieser Grundlage fort, und so hat er
es vermocht, den aus warmer, lebendiger Anschauung des jugendlichen Dichters
geflossenem ersten Monolog, diese gewaltige Darstellung des Dranges nach un¬
mittelbarer Erkenntnis des Wesens von Gott und Welt, die Schelling vor
achtzig Jahren als ewig frischen Quell der Begeisterung gepriesen hat, der allein
zugereicht habe, die Wissenschaft zu verjüngen und den Hauch neuen Lebens z»
verbreiten, dieses dramatische Meisterstück für eine leidige Flickarbeit auszugeben,
für eine Verbindung garnicht zusammengehörender Stücke, deren ursprüngliche


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[0612] Zum Verständnis und zum Schutze des ersten Faust¬ monologs. von Heinrich Düntzer. an erschrickt ordentlich liber das Selbstbewußtsein, mit dem der krampfhafte Scharfsinn eines der feinsten, kenntnisreichsten und beredtesten deutschen Literarhistoriker seine Einbildung in Sachen Goethes dem offnen Thatbestände gegenüber der Welt als un- zweifelhafte Ergebnisse gewissenhafter Forschung vorspiegelt. Natürlich fehlt es nicht an gläubigen Anhängern und Schülern, welche ohne Prüfung diese geistreichen Blüten bewundern, jn sich ans dem morschen Boden ansiedeln und im Geiste des Meisters, wenn auch mit weniger Begabung, fort- phautasireu- Was kümmert es sie, dnß dadurch das Bild des Menschen nud Dichters verzerrt, das Verständnis seiner Werke, statt an Klarheit und Einsicht zu gewinnen, in trübe Wolken gehüllt wird? Das ehrliche deutsche Gewissen, ja die Ehre deutscher Wissenschaft fordert ein umso rücksichtsloseres Entgegen¬ treten, je begabter der Mann ist, der die sogenannte Vorsicht als eine mit der Feigheit verwandte Gelchrtcnnntugcnd verhöhnt und sich von dem Luftschiffe seiner Einfälle lustig tragen läßt, wohin es diesen gefällt. Goethe schreibt am t, Mürz 1788 aus Rom, er habe das erste Manuskript seines „Faust" vor sich, das „in den Hanptszenen gleich so ohne Konzept hin¬ geschrieben" worden sei. Trotzdem und obgleich kein Grund zu der Annahme gegeben ist, die Äußerung habe ursprünglich anders gelautet, behauptet Scherer, die ältesten Szenen desselben, die für jeden Unparteiischen die Spuren frischester Schaffenskraft an sich tragen, seien «ach einem ein paar Jahre ältern prosaischen EntWurfe ungeschrieben. Sieht man genau zu, so gründet sich diese Annahme einzig darauf, daß im „Fragment" sich einige reimlose Verse finden, deren gereimte Fassung dem jungen Dichter nicht habe gelingen wollen. Ohne Goethes eignen Einspruch zu berücksichtigen, baut Scherer neuerdings (Goethe-Jahrbuch VI, 245—261, „Fausts erster Monolog") aus dieser Grundlage fort, und so hat er es vermocht, den aus warmer, lebendiger Anschauung des jugendlichen Dichters geflossenem ersten Monolog, diese gewaltige Darstellung des Dranges nach un¬ mittelbarer Erkenntnis des Wesens von Gott und Welt, die Schelling vor achtzig Jahren als ewig frischen Quell der Begeisterung gepriesen hat, der allein zugereicht habe, die Wissenschaft zu verjüngen und den Hauch neuen Lebens z» verbreiten, dieses dramatische Meisterstück für eine leidige Flickarbeit auszugeben, für eine Verbindung garnicht zusammengehörender Stücke, deren ursprüngliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/612>, abgerufen am 19.05.2024.