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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Tell und Mode.

Als würdiger und interessanter Schluß des Buches erscheint der Versuch,
wenigstens "das hellsehende Ahnen von räumlich oder zeitlich weit entfernten
Vorgängen" zu erklären. Er führt uns mitten in des Verfassers metaphysische
Anschauungen, die jedenfalls den Vorzug haben, im Prinzip mit denen des größten
nachhegelschen Philosophen, Hermann Lvtzcs, verwandt zu sein. Ein "konkreter
Monismus" würde unbedingt erheischen, daß in dem einen Seienden alles indi¬
viduell Seiende eine Rückwärtsverbindnng finde, daß also die Individualseele
"gleichsam ein zentraler Telephvnanschluß" die Zustände andrer individuell existi-
render Dinge vermittle.

Vermutlich wird über unser Buch der Zorn der Kritik von rechts und links
her ausgeschüttet werden. Denn wer sich in die Welt mit einem Werke von
scharf markirter Eigenart einführt, darf heute mehr denn je darauf rechnen, daß
überaus scharfsinnige Leute bei jeden: folgenden in alle Zukunft hinein den
Charakter des ersten wittern. Und Hartmann hat mit seiner "Philosophie
des Unbewußten" bei zu vielen angestoßen, als daß sich nicht übergenug
Scharfsinnige unter ihnen finde" sollten. Möge sich niemand die Lust ver¬
kümmern lassen, selbst zu lesen.




Stil und Mode.

as folgende soll keine ästhetische Abhandlung allgemeinen Inhalts
werden, auch kein Versuch, die beiden Begriffe "Stil" und "Mode"
zu definiren. Jedes Schulkind weiß heutzutage, was "stilvoll,"
und noch besser, was "Mode" ist. Wir wollen nur in einem
Rückblicke ans das verflossene Jahr aufzuspüren versuchen, ob und
inwieweit sich die Mode zum Stil verdichtet oder beruhigt hat. "Beruhigt"
ist Wohl in der Zeit, in welcher wir leben, der richtigste Ausdruck. Die Unruhe,
der ewige Wechsel ist das Zeichen unsrer Zeit, das Beharren aber, welches
unsre Altvordern, d. h. noch die Männer, die mit Goethe alt geworden waren,
als ihr Ideal, dann mis ihren Vorzug preisen durften, auch für uns das Er¬
strebenswerte. Haben wir nur irgendeine Hoffnung, aus unsrer Unrnhe
herauszukommen? Wird unser Leben, d. h. die ästhetischen und kulturgeschicht¬
lichen Erscheinungsformen desselben, zum Beharren, zum Bleiben im Wechsel
gelangen, wenn auch nur für die kurze Spanne eines Menschenalters?

Um unsern Standpunkt, das Ergebnis unsrer Anschauungen und Beob¬
achtungen gleich von vornherein zu kennzeichnen, müssen wir diese Fragen mit
Nein! beantworten. Nirgends, wohin wir auch blicken mögen, sind Keime,


Tell und Mode.

Als würdiger und interessanter Schluß des Buches erscheint der Versuch,
wenigstens „das hellsehende Ahnen von räumlich oder zeitlich weit entfernten
Vorgängen" zu erklären. Er führt uns mitten in des Verfassers metaphysische
Anschauungen, die jedenfalls den Vorzug haben, im Prinzip mit denen des größten
nachhegelschen Philosophen, Hermann Lvtzcs, verwandt zu sein. Ein „konkreter
Monismus" würde unbedingt erheischen, daß in dem einen Seienden alles indi¬
viduell Seiende eine Rückwärtsverbindnng finde, daß also die Individualseele
„gleichsam ein zentraler Telephvnanschluß" die Zustände andrer individuell existi-
render Dinge vermittle.

Vermutlich wird über unser Buch der Zorn der Kritik von rechts und links
her ausgeschüttet werden. Denn wer sich in die Welt mit einem Werke von
scharf markirter Eigenart einführt, darf heute mehr denn je darauf rechnen, daß
überaus scharfsinnige Leute bei jeden: folgenden in alle Zukunft hinein den
Charakter des ersten wittern. Und Hartmann hat mit seiner „Philosophie
des Unbewußten" bei zu vielen angestoßen, als daß sich nicht übergenug
Scharfsinnige unter ihnen finde» sollten. Möge sich niemand die Lust ver¬
kümmern lassen, selbst zu lesen.




Stil und Mode.

as folgende soll keine ästhetische Abhandlung allgemeinen Inhalts
werden, auch kein Versuch, die beiden Begriffe „Stil" und „Mode"
zu definiren. Jedes Schulkind weiß heutzutage, was „stilvoll,"
und noch besser, was „Mode" ist. Wir wollen nur in einem
Rückblicke ans das verflossene Jahr aufzuspüren versuchen, ob und
inwieweit sich die Mode zum Stil verdichtet oder beruhigt hat. „Beruhigt"
ist Wohl in der Zeit, in welcher wir leben, der richtigste Ausdruck. Die Unruhe,
der ewige Wechsel ist das Zeichen unsrer Zeit, das Beharren aber, welches
unsre Altvordern, d. h. noch die Männer, die mit Goethe alt geworden waren,
als ihr Ideal, dann mis ihren Vorzug preisen durften, auch für uns das Er¬
strebenswerte. Haben wir nur irgendeine Hoffnung, aus unsrer Unrnhe
herauszukommen? Wird unser Leben, d. h. die ästhetischen und kulturgeschicht¬
lichen Erscheinungsformen desselben, zum Beharren, zum Bleiben im Wechsel
gelangen, wenn auch nur für die kurze Spanne eines Menschenalters?

Um unsern Standpunkt, das Ergebnis unsrer Anschauungen und Beob¬
achtungen gleich von vornherein zu kennzeichnen, müssen wir diese Fragen mit
Nein! beantworten. Nirgends, wohin wir auch blicken mögen, sind Keime,


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[0079] Tell und Mode. Als würdiger und interessanter Schluß des Buches erscheint der Versuch, wenigstens „das hellsehende Ahnen von räumlich oder zeitlich weit entfernten Vorgängen" zu erklären. Er führt uns mitten in des Verfassers metaphysische Anschauungen, die jedenfalls den Vorzug haben, im Prinzip mit denen des größten nachhegelschen Philosophen, Hermann Lvtzcs, verwandt zu sein. Ein „konkreter Monismus" würde unbedingt erheischen, daß in dem einen Seienden alles indi¬ viduell Seiende eine Rückwärtsverbindnng finde, daß also die Individualseele „gleichsam ein zentraler Telephvnanschluß" die Zustände andrer individuell existi- render Dinge vermittle. Vermutlich wird über unser Buch der Zorn der Kritik von rechts und links her ausgeschüttet werden. Denn wer sich in die Welt mit einem Werke von scharf markirter Eigenart einführt, darf heute mehr denn je darauf rechnen, daß überaus scharfsinnige Leute bei jeden: folgenden in alle Zukunft hinein den Charakter des ersten wittern. Und Hartmann hat mit seiner „Philosophie des Unbewußten" bei zu vielen angestoßen, als daß sich nicht übergenug Scharfsinnige unter ihnen finde» sollten. Möge sich niemand die Lust ver¬ kümmern lassen, selbst zu lesen. Stil und Mode. as folgende soll keine ästhetische Abhandlung allgemeinen Inhalts werden, auch kein Versuch, die beiden Begriffe „Stil" und „Mode" zu definiren. Jedes Schulkind weiß heutzutage, was „stilvoll," und noch besser, was „Mode" ist. Wir wollen nur in einem Rückblicke ans das verflossene Jahr aufzuspüren versuchen, ob und inwieweit sich die Mode zum Stil verdichtet oder beruhigt hat. „Beruhigt" ist Wohl in der Zeit, in welcher wir leben, der richtigste Ausdruck. Die Unruhe, der ewige Wechsel ist das Zeichen unsrer Zeit, das Beharren aber, welches unsre Altvordern, d. h. noch die Männer, die mit Goethe alt geworden waren, als ihr Ideal, dann mis ihren Vorzug preisen durften, auch für uns das Er¬ strebenswerte. Haben wir nur irgendeine Hoffnung, aus unsrer Unrnhe herauszukommen? Wird unser Leben, d. h. die ästhetischen und kulturgeschicht¬ lichen Erscheinungsformen desselben, zum Beharren, zum Bleiben im Wechsel gelangen, wenn auch nur für die kurze Spanne eines Menschenalters? Um unsern Standpunkt, das Ergebnis unsrer Anschauungen und Beob¬ achtungen gleich von vornherein zu kennzeichnen, müssen wir diese Fragen mit Nein! beantworten. Nirgends, wohin wir auch blicken mögen, sind Keime,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/79>, abgerufen am 19.05.2024.