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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Margarethe von Vülow.

s fehlt in der deutschen Literatur nicht an Gestalten, deren
Schicksal uns tragisch berührt, weil der grausame Tod einem
hoffnungsvollen Dasein mitten in seiner schönsten Lebensblüte
ein jähes Ende bereitete; man denke an I. Chr, Günther, Hölty,
^ Novalis, Collin, Büchner n. a. Doppelt rührend jedoch ist das
Schicksal der deutschen Kvusulstochter Margarethe von Bülow, der es bestimmt
war, bei einer wahrhaft edeln Handlung, bei der Rettung eines Menschenlebens,
jung zu sterben und allen begründeten Aussichten auf eine erfolgreiche literarische
Laufbahn plötzlich entrissen zu werden, der es nicht einmal vergönnt war, die Buch¬
ansgaben ihrer Novellen zu erleben, welche nur zum Teil in Zeituugsfeuilletous
und in Familienblättern dem Publikum bekannt geworden waren, "Am 2, Januar
1884 -- so berichtet Julian Schmidt in dem Vorworte zu ihren Novellen (Berlin,
Hertz, 1885) -- hörte Margarethe von Bülow, die mit ihrer Schwester auf
dem Rummelsburger See Schlittschuh lief, den Notschrei eines eingebrochenen
Knaben; sie eilte sofort hinzu, sprang in die Öffnung, hob den Knaben empor,
der auch gerettet wurde, sie selbst aber versank plötzlich unter dem Eise, wahr¬
scheinlich von einem Herzschläge getroffen. Vergebens versuchte ihre Schwester
sie zu retten: das heldenmütige Mädchen war tot, als sie unter dem Eise hervor¬
gezogen wurde. ... Da ihr Tod, erzählt Schmidt weiter, allgemeine Teilnahme
erregte, wurden in den letzten Monaten zahlreiche Manuskripte von ihr abge¬
druckt; die Auswahl derselben in dem vorliegenden Bändchen hat ihre Schwester,
die in treuer Liebe an ihr hing, besorgt. Sie war, als sie starb, noch nicht
vierundzwanzig Jahre alt: was bei größerer Reife ans ihr sich hätte entwickeln
können, kann man nur vermuten. Ich selbst schöpfte aus ihrer Persönlichkeit
die beste Hoffnung eines einstigen schönen Erfolges."

In der Kritik, deren Beruf es nnr zu häufig, um mit A. W. Schlegel zu
reden, mit sich bringt, das Totgeborne totzuschlagen, ist nichts weniger ange¬
bracht, ja geradezu nichts lächerlicher als mattherzige Sentimentalität. Indes
ist die Kritik niemals der Versuchung, sentimental zu werden, mehr ausgesetzt,
als bei der Betrachtung von Werken, deren Schöpfer vor den Zeit der vollen
Entfaltung ihres Talentes haben sterben müssen; niemals anch ist man mehr
zur Überschätzung geneigt als angesichts solcher Erscheinungen, nie mehr geneigt,
Mängel der künstlerischen Begabung auf Rechnung des unfertigen jungen Menschen
zu setzen. So fristet mancher Name in der Literaturgeschichte sein Dasein, nnr
weil der Autor jung und hoffnungsvoll gestorben ist, so wurde manches hinter-


Margarethe von Vülow.

s fehlt in der deutschen Literatur nicht an Gestalten, deren
Schicksal uns tragisch berührt, weil der grausame Tod einem
hoffnungsvollen Dasein mitten in seiner schönsten Lebensblüte
ein jähes Ende bereitete; man denke an I. Chr, Günther, Hölty,
^ Novalis, Collin, Büchner n. a. Doppelt rührend jedoch ist das
Schicksal der deutschen Kvusulstochter Margarethe von Bülow, der es bestimmt
war, bei einer wahrhaft edeln Handlung, bei der Rettung eines Menschenlebens,
jung zu sterben und allen begründeten Aussichten auf eine erfolgreiche literarische
Laufbahn plötzlich entrissen zu werden, der es nicht einmal vergönnt war, die Buch¬
ansgaben ihrer Novellen zu erleben, welche nur zum Teil in Zeituugsfeuilletous
und in Familienblättern dem Publikum bekannt geworden waren, „Am 2, Januar
1884 — so berichtet Julian Schmidt in dem Vorworte zu ihren Novellen (Berlin,
Hertz, 1885) — hörte Margarethe von Bülow, die mit ihrer Schwester auf
dem Rummelsburger See Schlittschuh lief, den Notschrei eines eingebrochenen
Knaben; sie eilte sofort hinzu, sprang in die Öffnung, hob den Knaben empor,
der auch gerettet wurde, sie selbst aber versank plötzlich unter dem Eise, wahr¬
scheinlich von einem Herzschläge getroffen. Vergebens versuchte ihre Schwester
sie zu retten: das heldenmütige Mädchen war tot, als sie unter dem Eise hervor¬
gezogen wurde. ... Da ihr Tod, erzählt Schmidt weiter, allgemeine Teilnahme
erregte, wurden in den letzten Monaten zahlreiche Manuskripte von ihr abge¬
druckt; die Auswahl derselben in dem vorliegenden Bändchen hat ihre Schwester,
die in treuer Liebe an ihr hing, besorgt. Sie war, als sie starb, noch nicht
vierundzwanzig Jahre alt: was bei größerer Reife ans ihr sich hätte entwickeln
können, kann man nur vermuten. Ich selbst schöpfte aus ihrer Persönlichkeit
die beste Hoffnung eines einstigen schönen Erfolges."

In der Kritik, deren Beruf es nnr zu häufig, um mit A. W. Schlegel zu
reden, mit sich bringt, das Totgeborne totzuschlagen, ist nichts weniger ange¬
bracht, ja geradezu nichts lächerlicher als mattherzige Sentimentalität. Indes
ist die Kritik niemals der Versuchung, sentimental zu werden, mehr ausgesetzt,
als bei der Betrachtung von Werken, deren Schöpfer vor den Zeit der vollen
Entfaltung ihres Talentes haben sterben müssen; niemals anch ist man mehr
zur Überschätzung geneigt als angesichts solcher Erscheinungen, nie mehr geneigt,
Mängel der künstlerischen Begabung auf Rechnung des unfertigen jungen Menschen
zu setzen. So fristet mancher Name in der Literaturgeschichte sein Dasein, nnr
weil der Autor jung und hoffnungsvoll gestorben ist, so wurde manches hinter-


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[0216] Margarethe von Vülow. s fehlt in der deutschen Literatur nicht an Gestalten, deren Schicksal uns tragisch berührt, weil der grausame Tod einem hoffnungsvollen Dasein mitten in seiner schönsten Lebensblüte ein jähes Ende bereitete; man denke an I. Chr, Günther, Hölty, ^ Novalis, Collin, Büchner n. a. Doppelt rührend jedoch ist das Schicksal der deutschen Kvusulstochter Margarethe von Bülow, der es bestimmt war, bei einer wahrhaft edeln Handlung, bei der Rettung eines Menschenlebens, jung zu sterben und allen begründeten Aussichten auf eine erfolgreiche literarische Laufbahn plötzlich entrissen zu werden, der es nicht einmal vergönnt war, die Buch¬ ansgaben ihrer Novellen zu erleben, welche nur zum Teil in Zeituugsfeuilletous und in Familienblättern dem Publikum bekannt geworden waren, „Am 2, Januar 1884 — so berichtet Julian Schmidt in dem Vorworte zu ihren Novellen (Berlin, Hertz, 1885) — hörte Margarethe von Bülow, die mit ihrer Schwester auf dem Rummelsburger See Schlittschuh lief, den Notschrei eines eingebrochenen Knaben; sie eilte sofort hinzu, sprang in die Öffnung, hob den Knaben empor, der auch gerettet wurde, sie selbst aber versank plötzlich unter dem Eise, wahr¬ scheinlich von einem Herzschläge getroffen. Vergebens versuchte ihre Schwester sie zu retten: das heldenmütige Mädchen war tot, als sie unter dem Eise hervor¬ gezogen wurde. ... Da ihr Tod, erzählt Schmidt weiter, allgemeine Teilnahme erregte, wurden in den letzten Monaten zahlreiche Manuskripte von ihr abge¬ druckt; die Auswahl derselben in dem vorliegenden Bändchen hat ihre Schwester, die in treuer Liebe an ihr hing, besorgt. Sie war, als sie starb, noch nicht vierundzwanzig Jahre alt: was bei größerer Reife ans ihr sich hätte entwickeln können, kann man nur vermuten. Ich selbst schöpfte aus ihrer Persönlichkeit die beste Hoffnung eines einstigen schönen Erfolges." In der Kritik, deren Beruf es nnr zu häufig, um mit A. W. Schlegel zu reden, mit sich bringt, das Totgeborne totzuschlagen, ist nichts weniger ange¬ bracht, ja geradezu nichts lächerlicher als mattherzige Sentimentalität. Indes ist die Kritik niemals der Versuchung, sentimental zu werden, mehr ausgesetzt, als bei der Betrachtung von Werken, deren Schöpfer vor den Zeit der vollen Entfaltung ihres Talentes haben sterben müssen; niemals anch ist man mehr zur Überschätzung geneigt als angesichts solcher Erscheinungen, nie mehr geneigt, Mängel der künstlerischen Begabung auf Rechnung des unfertigen jungen Menschen zu setzen. So fristet mancher Name in der Literaturgeschichte sein Dasein, nnr weil der Autor jung und hoffnungsvoll gestorben ist, so wurde manches hinter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/216>, abgerufen am 02.05.2024.