Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

udolf Gneist ist unzweifelhaft derjenige Gelehrte in Deutschland,
der sich um die Erforschung und Darstellung der englischen Ver¬
fassung die größten Verdienste erworben hat. Indem er die
Eigenartigkeit der englischen Verhältnisse untersuchte und ins
Licht stellte, hat er den Wahn zerstört, als ob diese Verhältnisse
ohne weiteres auf andre Länder und Völker übertragbar seien und als ob uns
das Heil davon kommen könne, daß wir einfach das Vorbild des englischen
Musterstaates sklavisch nachahmen; er hat der allein richtigen Ansicht zum
Durchbruch verholfen, daß jedes Volk nach seiner Fa<M frei und glücklich werden
muß. Zuerst hat Gneist das englische Selfgovernment dargestellt (dritte Auf-
lage 1871), dann das englische Verwaltilngsrecht (dritte Auflage 1883/84); den
dritten Hauptteil der Gesamtausgabe, die Parlamentsverfassung, wollte er längere
Zeit jüngern Kräften zur Behandlung überlassen, für welche die Bausteine bereit
lagen. Da sich aber diese jttngeru Kräfte nicht zur Arbeit einstellten, so ent¬
schloß er sich, die Aufgabe zunächst in kurzer, übersichtlicher Form selbst zu
lösen, und er hat dies in einem Bande von 407 Seiten gethan, welcher vor
kurzem in dem Verlage des "Allgemeinen Vereins für deutsche Literatur" als
Ur. 53 unter dem Titel: "Das englische Parlament in tausendjährigen Wand¬
lungen vom neunten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts" erschienen ist.

Wenn man das heutige englische Parlament ins Auge faßt, so hat man
freilich Mühe, es in seinem Ahnherrn wiederzuerkennen. Ursprünglich, so
lange die Angelsachsen eine bloß kantonale Verfassung hatten, bestand auch bei
ihnen die volle Volksversammlung, wie sie Taeitus in der Germania be
schreibt; sobald aber die Kantone zu einem Volksganzen verschmolzen, hörte auch
die Möglichkeit einer Volksversammlung auf. Eine solche hat auch bei den
Gothen, Franken u. s. w. niemals bestanden, und konnte nicht bestehen, da schon
aus Mangel an geeigneten Wegen, an Transportmitteln, an Gelegenheit, sich
mit ausreichendem Mundvorrate zu versehen, solche Zusammenkünfte von
Hunderttausenden zur Beratung von Gesetzen, Friedensschlüssen n. dergl, sich
von selbst verbieten mußten. Auch von der streng republikanischen Verfassung
der Sachsen ist nur bezeugt, daß sie durch eine kleine Zahl von abgeordneten
Boten von Zeit zu Zeit gemeinsame Angelegenheiten besprachen. Die Natur
der Sache zwang dazu, die Volksversammlungen in der einen oder andern
Weise zu Delcgirtenversammlungcu umzugestalten. Und wiederum brachte es
die Sitte mit sich, daß die von fern Herkommenden nicht anders als mit einem


Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

udolf Gneist ist unzweifelhaft derjenige Gelehrte in Deutschland,
der sich um die Erforschung und Darstellung der englischen Ver¬
fassung die größten Verdienste erworben hat. Indem er die
Eigenartigkeit der englischen Verhältnisse untersuchte und ins
Licht stellte, hat er den Wahn zerstört, als ob diese Verhältnisse
ohne weiteres auf andre Länder und Völker übertragbar seien und als ob uns
das Heil davon kommen könne, daß wir einfach das Vorbild des englischen
Musterstaates sklavisch nachahmen; er hat der allein richtigen Ansicht zum
Durchbruch verholfen, daß jedes Volk nach seiner Fa<M frei und glücklich werden
muß. Zuerst hat Gneist das englische Selfgovernment dargestellt (dritte Auf-
lage 1871), dann das englische Verwaltilngsrecht (dritte Auflage 1883/84); den
dritten Hauptteil der Gesamtausgabe, die Parlamentsverfassung, wollte er längere
Zeit jüngern Kräften zur Behandlung überlassen, für welche die Bausteine bereit
lagen. Da sich aber diese jttngeru Kräfte nicht zur Arbeit einstellten, so ent¬
schloß er sich, die Aufgabe zunächst in kurzer, übersichtlicher Form selbst zu
lösen, und er hat dies in einem Bande von 407 Seiten gethan, welcher vor
kurzem in dem Verlage des „Allgemeinen Vereins für deutsche Literatur" als
Ur. 53 unter dem Titel: „Das englische Parlament in tausendjährigen Wand¬
lungen vom neunten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts" erschienen ist.

Wenn man das heutige englische Parlament ins Auge faßt, so hat man
freilich Mühe, es in seinem Ahnherrn wiederzuerkennen. Ursprünglich, so
lange die Angelsachsen eine bloß kantonale Verfassung hatten, bestand auch bei
ihnen die volle Volksversammlung, wie sie Taeitus in der Germania be
schreibt; sobald aber die Kantone zu einem Volksganzen verschmolzen, hörte auch
die Möglichkeit einer Volksversammlung auf. Eine solche hat auch bei den
Gothen, Franken u. s. w. niemals bestanden, und konnte nicht bestehen, da schon
aus Mangel an geeigneten Wegen, an Transportmitteln, an Gelegenheit, sich
mit ausreichendem Mundvorrate zu versehen, solche Zusammenkünfte von
Hunderttausenden zur Beratung von Gesetzen, Friedensschlüssen n. dergl, sich
von selbst verbieten mußten. Auch von der streng republikanischen Verfassung
der Sachsen ist nur bezeugt, daß sie durch eine kleine Zahl von abgeordneten
Boten von Zeit zu Zeit gemeinsame Angelegenheiten besprachen. Die Natur
der Sache zwang dazu, die Volksversammlungen in der einen oder andern
Weise zu Delcgirtenversammlungcu umzugestalten. Und wiederum brachte es
die Sitte mit sich, daß die von fern Herkommenden nicht anders als mit einem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0020" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199374"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_32"> udolf Gneist ist unzweifelhaft derjenige Gelehrte in Deutschland,<lb/>
der sich um die Erforschung und Darstellung der englischen Ver¬<lb/>
fassung die größten Verdienste erworben hat. Indem er die<lb/>
Eigenartigkeit der englischen Verhältnisse untersuchte und ins<lb/>
Licht stellte, hat er den Wahn zerstört, als ob diese Verhältnisse<lb/>
ohne weiteres auf andre Länder und Völker übertragbar seien und als ob uns<lb/>
das Heil davon kommen könne, daß wir einfach das Vorbild des englischen<lb/>
Musterstaates sklavisch nachahmen; er hat der allein richtigen Ansicht zum<lb/>
Durchbruch verholfen, daß jedes Volk nach seiner Fa&lt;M frei und glücklich werden<lb/>
muß. Zuerst hat Gneist das englische Selfgovernment dargestellt (dritte Auf-<lb/>
lage 1871), dann das englische Verwaltilngsrecht (dritte Auflage 1883/84); den<lb/>
dritten Hauptteil der Gesamtausgabe, die Parlamentsverfassung, wollte er längere<lb/>
Zeit jüngern Kräften zur Behandlung überlassen, für welche die Bausteine bereit<lb/>
lagen. Da sich aber diese jttngeru Kräfte nicht zur Arbeit einstellten, so ent¬<lb/>
schloß er sich, die Aufgabe zunächst in kurzer, übersichtlicher Form selbst zu<lb/>
lösen, und er hat dies in einem Bande von 407 Seiten gethan, welcher vor<lb/>
kurzem in dem Verlage des &#x201E;Allgemeinen Vereins für deutsche Literatur" als<lb/>
Ur. 53 unter dem Titel: &#x201E;Das englische Parlament in tausendjährigen Wand¬<lb/>
lungen vom neunten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts" erschienen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> Wenn man das heutige englische Parlament ins Auge faßt, so hat man<lb/>
freilich Mühe, es in seinem Ahnherrn wiederzuerkennen. Ursprünglich, so<lb/>
lange die Angelsachsen eine bloß kantonale Verfassung hatten, bestand auch bei<lb/>
ihnen die volle Volksversammlung, wie sie Taeitus in der Germania be<lb/>
schreibt; sobald aber die Kantone zu einem Volksganzen verschmolzen, hörte auch<lb/>
die Möglichkeit einer Volksversammlung auf. Eine solche hat auch bei den<lb/>
Gothen, Franken u. s. w. niemals bestanden, und konnte nicht bestehen, da schon<lb/>
aus Mangel an geeigneten Wegen, an Transportmitteln, an Gelegenheit, sich<lb/>
mit ausreichendem Mundvorrate zu versehen, solche Zusammenkünfte von<lb/>
Hunderttausenden zur Beratung von Gesetzen, Friedensschlüssen n. dergl, sich<lb/>
von selbst verbieten mußten. Auch von der streng republikanischen Verfassung<lb/>
der Sachsen ist nur bezeugt, daß sie durch eine kleine Zahl von abgeordneten<lb/>
Boten von Zeit zu Zeit gemeinsame Angelegenheiten besprachen. Die Natur<lb/>
der Sache zwang dazu, die Volksversammlungen in der einen oder andern<lb/>
Weise zu Delcgirtenversammlungcu umzugestalten. Und wiederum brachte es<lb/>
die Sitte mit sich, daß die von fern Herkommenden nicht anders als mit einem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0020] Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments. udolf Gneist ist unzweifelhaft derjenige Gelehrte in Deutschland, der sich um die Erforschung und Darstellung der englischen Ver¬ fassung die größten Verdienste erworben hat. Indem er die Eigenartigkeit der englischen Verhältnisse untersuchte und ins Licht stellte, hat er den Wahn zerstört, als ob diese Verhältnisse ohne weiteres auf andre Länder und Völker übertragbar seien und als ob uns das Heil davon kommen könne, daß wir einfach das Vorbild des englischen Musterstaates sklavisch nachahmen; er hat der allein richtigen Ansicht zum Durchbruch verholfen, daß jedes Volk nach seiner Fa<M frei und glücklich werden muß. Zuerst hat Gneist das englische Selfgovernment dargestellt (dritte Auf- lage 1871), dann das englische Verwaltilngsrecht (dritte Auflage 1883/84); den dritten Hauptteil der Gesamtausgabe, die Parlamentsverfassung, wollte er längere Zeit jüngern Kräften zur Behandlung überlassen, für welche die Bausteine bereit lagen. Da sich aber diese jttngeru Kräfte nicht zur Arbeit einstellten, so ent¬ schloß er sich, die Aufgabe zunächst in kurzer, übersichtlicher Form selbst zu lösen, und er hat dies in einem Bande von 407 Seiten gethan, welcher vor kurzem in dem Verlage des „Allgemeinen Vereins für deutsche Literatur" als Ur. 53 unter dem Titel: „Das englische Parlament in tausendjährigen Wand¬ lungen vom neunten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts" erschienen ist. Wenn man das heutige englische Parlament ins Auge faßt, so hat man freilich Mühe, es in seinem Ahnherrn wiederzuerkennen. Ursprünglich, so lange die Angelsachsen eine bloß kantonale Verfassung hatten, bestand auch bei ihnen die volle Volksversammlung, wie sie Taeitus in der Germania be schreibt; sobald aber die Kantone zu einem Volksganzen verschmolzen, hörte auch die Möglichkeit einer Volksversammlung auf. Eine solche hat auch bei den Gothen, Franken u. s. w. niemals bestanden, und konnte nicht bestehen, da schon aus Mangel an geeigneten Wegen, an Transportmitteln, an Gelegenheit, sich mit ausreichendem Mundvorrate zu versehen, solche Zusammenkünfte von Hunderttausenden zur Beratung von Gesetzen, Friedensschlüssen n. dergl, sich von selbst verbieten mußten. Auch von der streng republikanischen Verfassung der Sachsen ist nur bezeugt, daß sie durch eine kleine Zahl von abgeordneten Boten von Zeit zu Zeit gemeinsame Angelegenheiten besprachen. Die Natur der Sache zwang dazu, die Volksversammlungen in der einen oder andern Weise zu Delcgirtenversammlungcu umzugestalten. Und wiederum brachte es die Sitte mit sich, daß die von fern Herkommenden nicht anders als mit einem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/20
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/20>, abgerufen am 29.04.2024.