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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der ewige Jude.

genommen, dadurch, daß man ihr nicht mehr ausschließliche Geltung läßt, so
wird ihm der tödliche Streich von außen beigebracht; es würde unter unsern
heutigen Gesellschaftszuständen zu Grunde gehen und so lange im Grabe ruhen,
bis die aus seinem Mangel hervortretenden Übelstände seine Wiederbelebung
in irgendeiner Form herausforderten. Denn alles Höher-Menschliche tritt nur
unter Zucht und einem gewissen äußern Zwange in Erscheinung, und wie der
Humanist früher trotz seiner alten Feinde seine Aufgabe mir erfüllen konnte,
daß er thatsächlich der einzige höhere Lehrer war, so kann er sich heute in einem
unruhige", experimentirungssüchtigen Zeitalter vor ihnen nur schützen, daß er
rechtlich der einzige bleibt. Es ist erfreulich, aber auch natürlich, daß sich der
Staat dieser Einsicht so früh erschloß, denn er übersieht am ehesten, daß auf
keinem Gebiete unbeschränkte Freizügigkeit und vages Experimentiren so gefährlich
und unzuträglich ist, als ans dem der höheren Jugendbildung. Die Freunde der
Schönheit und Humanität hegen die zuversichtliche Hoffnung, daß dieser Zustand
andauern werde, bis wieder günstigere Lebensbedingungen für ihre Ideale den¬
selben überflüssig gemacht haben werden.




Der ewige Jude.
i.

ymbolische Dichtungen haben heutzutage ein allgemein verbreitetes
Vorurteil gegen sich. Eine lange Erfahrung hat dieses Vor¬
urteil begründet. Gewöhnlich haben die philosophischen Dichter,
die über die Wirklichkeit hinaus zu Bildern griffen, welche
mehr bedeuten sollten, als sie dem naiven Auge boten, keinen
befriedigt: nicht den Denker, nicht den Künstler. Es ist eine Thatsache, daß
die bleibenden Meisterwerke der Literatur stets realistischer Art waren: "Hermann
und Dorothea" ist der Nation wertvoller als die "Achilleis," der erste Theil
des "Faust" lieber als der zweite geworden; und auch geringeren Dichtern als
Goethe ging es so, z. B. Immermann. Diese ästhetische Überzeugung hat sich
schließlich in unsrer Literatur Bahn gebrochen und ist die herrschende geworden,
sodaß man die jetzige Epoche geradezu als die des Realismus hat bezeichnen
können. Die bedeutendsten dichterischen Köpfe bekennen sich zu diesem Kunst¬
prinzip, zu einer Kunst, welche es mit ihren Gestalten ehrlich meint und sie
nicht als Stellvertreter von Ideen angesehen wissen will. Freilich ist dieser


Der ewige Jude.

genommen, dadurch, daß man ihr nicht mehr ausschließliche Geltung läßt, so
wird ihm der tödliche Streich von außen beigebracht; es würde unter unsern
heutigen Gesellschaftszuständen zu Grunde gehen und so lange im Grabe ruhen,
bis die aus seinem Mangel hervortretenden Übelstände seine Wiederbelebung
in irgendeiner Form herausforderten. Denn alles Höher-Menschliche tritt nur
unter Zucht und einem gewissen äußern Zwange in Erscheinung, und wie der
Humanist früher trotz seiner alten Feinde seine Aufgabe mir erfüllen konnte,
daß er thatsächlich der einzige höhere Lehrer war, so kann er sich heute in einem
unruhige», experimentirungssüchtigen Zeitalter vor ihnen nur schützen, daß er
rechtlich der einzige bleibt. Es ist erfreulich, aber auch natürlich, daß sich der
Staat dieser Einsicht so früh erschloß, denn er übersieht am ehesten, daß auf
keinem Gebiete unbeschränkte Freizügigkeit und vages Experimentiren so gefährlich
und unzuträglich ist, als ans dem der höheren Jugendbildung. Die Freunde der
Schönheit und Humanität hegen die zuversichtliche Hoffnung, daß dieser Zustand
andauern werde, bis wieder günstigere Lebensbedingungen für ihre Ideale den¬
selben überflüssig gemacht haben werden.




Der ewige Jude.
i.

ymbolische Dichtungen haben heutzutage ein allgemein verbreitetes
Vorurteil gegen sich. Eine lange Erfahrung hat dieses Vor¬
urteil begründet. Gewöhnlich haben die philosophischen Dichter,
die über die Wirklichkeit hinaus zu Bildern griffen, welche
mehr bedeuten sollten, als sie dem naiven Auge boten, keinen
befriedigt: nicht den Denker, nicht den Künstler. Es ist eine Thatsache, daß
die bleibenden Meisterwerke der Literatur stets realistischer Art waren: „Hermann
und Dorothea" ist der Nation wertvoller als die „Achilleis," der erste Theil
des „Faust" lieber als der zweite geworden; und auch geringeren Dichtern als
Goethe ging es so, z. B. Immermann. Diese ästhetische Überzeugung hat sich
schließlich in unsrer Literatur Bahn gebrochen und ist die herrschende geworden,
sodaß man die jetzige Epoche geradezu als die des Realismus hat bezeichnen
können. Die bedeutendsten dichterischen Köpfe bekennen sich zu diesem Kunst¬
prinzip, zu einer Kunst, welche es mit ihren Gestalten ehrlich meint und sie
nicht als Stellvertreter von Ideen angesehen wissen will. Freilich ist dieser


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[0227] Der ewige Jude. genommen, dadurch, daß man ihr nicht mehr ausschließliche Geltung läßt, so wird ihm der tödliche Streich von außen beigebracht; es würde unter unsern heutigen Gesellschaftszuständen zu Grunde gehen und so lange im Grabe ruhen, bis die aus seinem Mangel hervortretenden Übelstände seine Wiederbelebung in irgendeiner Form herausforderten. Denn alles Höher-Menschliche tritt nur unter Zucht und einem gewissen äußern Zwange in Erscheinung, und wie der Humanist früher trotz seiner alten Feinde seine Aufgabe mir erfüllen konnte, daß er thatsächlich der einzige höhere Lehrer war, so kann er sich heute in einem unruhige», experimentirungssüchtigen Zeitalter vor ihnen nur schützen, daß er rechtlich der einzige bleibt. Es ist erfreulich, aber auch natürlich, daß sich der Staat dieser Einsicht so früh erschloß, denn er übersieht am ehesten, daß auf keinem Gebiete unbeschränkte Freizügigkeit und vages Experimentiren so gefährlich und unzuträglich ist, als ans dem der höheren Jugendbildung. Die Freunde der Schönheit und Humanität hegen die zuversichtliche Hoffnung, daß dieser Zustand andauern werde, bis wieder günstigere Lebensbedingungen für ihre Ideale den¬ selben überflüssig gemacht haben werden. Der ewige Jude. i. ymbolische Dichtungen haben heutzutage ein allgemein verbreitetes Vorurteil gegen sich. Eine lange Erfahrung hat dieses Vor¬ urteil begründet. Gewöhnlich haben die philosophischen Dichter, die über die Wirklichkeit hinaus zu Bildern griffen, welche mehr bedeuten sollten, als sie dem naiven Auge boten, keinen befriedigt: nicht den Denker, nicht den Künstler. Es ist eine Thatsache, daß die bleibenden Meisterwerke der Literatur stets realistischer Art waren: „Hermann und Dorothea" ist der Nation wertvoller als die „Achilleis," der erste Theil des „Faust" lieber als der zweite geworden; und auch geringeren Dichtern als Goethe ging es so, z. B. Immermann. Diese ästhetische Überzeugung hat sich schließlich in unsrer Literatur Bahn gebrochen und ist die herrschende geworden, sodaß man die jetzige Epoche geradezu als die des Realismus hat bezeichnen können. Die bedeutendsten dichterischen Köpfe bekennen sich zu diesem Kunst¬ prinzip, zu einer Kunst, welche es mit ihren Gestalten ehrlich meint und sie nicht als Stellvertreter von Ideen angesehen wissen will. Freilich ist dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/227>, abgerufen am 29.04.2024.