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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Olympia und der olympische Zeustempel.

Christentum noch nicht kennt? Hat er die Geisterhöhle des Untersberges etwa
mit andern Absichten aufgesucht, als der, seine Neugierde für Dinge zu be¬
friedigen, die er, der Vielgereiste, noch nicht kennen gelernt hat? Wann und wo
ist in diesen zwei Akten Ahasvers Lebensmüdigkeit betont worden? Wort und
Begriff der Erlösung kommen zum erstenmal aus dem Munde der konfessions¬
losen Pcrachta, und Ahasver versteht sie gleich, versteht auch seine Sünde, die
er vom christlichen Staudpunkte begangen hat. Wie ist das möglich?

Dies bleibt unklar; ebenso wie man nur schwer ergründen wird, was der
Dichter mit dem tausendjährigen Schlaf seiner drei Gesellen symbolisiren wollte.
Wenn wir die Vermutung aussprechen, daß der Dichter den Stillstand in der
Neuentwicklung der Menschheit andeuten wollte, daß er sagen wollte: Die
Idee der Erlösung zog als Christentum in Europa ein, sie verbreitete sich,
schuf Sitte und Kultur, aber sie verwirklichte sich nicht, die Menschheit wurde
nicht erlöst, und diese Idee machte auch keinen Fortschritt in sich selbst dnrch --
haben wir mit dieser Auslegung Recht? So geraten wir gleich im Beginne
in das Elend aller symbolischen Poesie -- in das Bedürfnis, zu kommentircn.
Doch verfolgen wir die Dichtung weiter.




Olympia und der olympische Zeustempel.
(Schluß.)

n der Lösung des Problems, wie das Verhältnis der olympischen
Giebelskulptnren zu bestimmte!? Künstlern aufzufassen sei, war viel
vermutet, aber noch keine Einigung in der gelehrten Welt erzielt
worden. Die Wege, welche die wissenschaftliche Forschung bisher
eingeschlagen hatte, standen unter dem Einflüsse des konservativen
Standpunktes, deu man gegenüber der Autorität des Pausanias einnahm, die
zu enthüllen insofern einen Verlust für die Geschichte der griechische:: Kunst zur
Folge haben mußte, als der Erkenntnis und Würdigung der künstlerischen Eigen¬
arten zweier Meister die wichtigste Grundlage, ihre Originalwerke, entzogen
wurde. Allem die Gründe, welche gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben des
Periegeten sprachen, waren so schwerwiegend, daß der Autoritätsglaube mehr
und mehr ins Schwanken kam, und man sich ans Grund einer besseren Einsicht
nicht scheute, das Wort, welches im Stillen vielleicht schon auf vieler Munde
geschwebt hatte, offen auszusprechen: Ist unsre literarische Quelle bezüglich ihrer
historischen Glaubwürdigkeit auf Treu und Glanben hinzunehmen, oder ist die
Kritik berechtigt, an ihrer Zuverlässigkeit zu zweifeln? Gerade die Ausgrabungen
von Olympia hatten die Wissenschaft in den Stand gesetzt, an der Hand der
Thatsachen, welche die neuen Funde ergeben hatten, die Beschreibung des


Olympia und der olympische Zeustempel.

Christentum noch nicht kennt? Hat er die Geisterhöhle des Untersberges etwa
mit andern Absichten aufgesucht, als der, seine Neugierde für Dinge zu be¬
friedigen, die er, der Vielgereiste, noch nicht kennen gelernt hat? Wann und wo
ist in diesen zwei Akten Ahasvers Lebensmüdigkeit betont worden? Wort und
Begriff der Erlösung kommen zum erstenmal aus dem Munde der konfessions¬
losen Pcrachta, und Ahasver versteht sie gleich, versteht auch seine Sünde, die
er vom christlichen Staudpunkte begangen hat. Wie ist das möglich?

Dies bleibt unklar; ebenso wie man nur schwer ergründen wird, was der
Dichter mit dem tausendjährigen Schlaf seiner drei Gesellen symbolisiren wollte.
Wenn wir die Vermutung aussprechen, daß der Dichter den Stillstand in der
Neuentwicklung der Menschheit andeuten wollte, daß er sagen wollte: Die
Idee der Erlösung zog als Christentum in Europa ein, sie verbreitete sich,
schuf Sitte und Kultur, aber sie verwirklichte sich nicht, die Menschheit wurde
nicht erlöst, und diese Idee machte auch keinen Fortschritt in sich selbst dnrch —
haben wir mit dieser Auslegung Recht? So geraten wir gleich im Beginne
in das Elend aller symbolischen Poesie — in das Bedürfnis, zu kommentircn.
Doch verfolgen wir die Dichtung weiter.




Olympia und der olympische Zeustempel.
(Schluß.)

n der Lösung des Problems, wie das Verhältnis der olympischen
Giebelskulptnren zu bestimmte!? Künstlern aufzufassen sei, war viel
vermutet, aber noch keine Einigung in der gelehrten Welt erzielt
worden. Die Wege, welche die wissenschaftliche Forschung bisher
eingeschlagen hatte, standen unter dem Einflüsse des konservativen
Standpunktes, deu man gegenüber der Autorität des Pausanias einnahm, die
zu enthüllen insofern einen Verlust für die Geschichte der griechische:: Kunst zur
Folge haben mußte, als der Erkenntnis und Würdigung der künstlerischen Eigen¬
arten zweier Meister die wichtigste Grundlage, ihre Originalwerke, entzogen
wurde. Allem die Gründe, welche gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben des
Periegeten sprachen, waren so schwerwiegend, daß der Autoritätsglaube mehr
und mehr ins Schwanken kam, und man sich ans Grund einer besseren Einsicht
nicht scheute, das Wort, welches im Stillen vielleicht schon auf vieler Munde
geschwebt hatte, offen auszusprechen: Ist unsre literarische Quelle bezüglich ihrer
historischen Glaubwürdigkeit auf Treu und Glanben hinzunehmen, oder ist die
Kritik berechtigt, an ihrer Zuverlässigkeit zu zweifeln? Gerade die Ausgrabungen
von Olympia hatten die Wissenschaft in den Stand gesetzt, an der Hand der
Thatsachen, welche die neuen Funde ergeben hatten, die Beschreibung des


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[0237] Olympia und der olympische Zeustempel. Christentum noch nicht kennt? Hat er die Geisterhöhle des Untersberges etwa mit andern Absichten aufgesucht, als der, seine Neugierde für Dinge zu be¬ friedigen, die er, der Vielgereiste, noch nicht kennen gelernt hat? Wann und wo ist in diesen zwei Akten Ahasvers Lebensmüdigkeit betont worden? Wort und Begriff der Erlösung kommen zum erstenmal aus dem Munde der konfessions¬ losen Pcrachta, und Ahasver versteht sie gleich, versteht auch seine Sünde, die er vom christlichen Staudpunkte begangen hat. Wie ist das möglich? Dies bleibt unklar; ebenso wie man nur schwer ergründen wird, was der Dichter mit dem tausendjährigen Schlaf seiner drei Gesellen symbolisiren wollte. Wenn wir die Vermutung aussprechen, daß der Dichter den Stillstand in der Neuentwicklung der Menschheit andeuten wollte, daß er sagen wollte: Die Idee der Erlösung zog als Christentum in Europa ein, sie verbreitete sich, schuf Sitte und Kultur, aber sie verwirklichte sich nicht, die Menschheit wurde nicht erlöst, und diese Idee machte auch keinen Fortschritt in sich selbst dnrch — haben wir mit dieser Auslegung Recht? So geraten wir gleich im Beginne in das Elend aller symbolischen Poesie — in das Bedürfnis, zu kommentircn. Doch verfolgen wir die Dichtung weiter. Olympia und der olympische Zeustempel. (Schluß.) n der Lösung des Problems, wie das Verhältnis der olympischen Giebelskulptnren zu bestimmte!? Künstlern aufzufassen sei, war viel vermutet, aber noch keine Einigung in der gelehrten Welt erzielt worden. Die Wege, welche die wissenschaftliche Forschung bisher eingeschlagen hatte, standen unter dem Einflüsse des konservativen Standpunktes, deu man gegenüber der Autorität des Pausanias einnahm, die zu enthüllen insofern einen Verlust für die Geschichte der griechische:: Kunst zur Folge haben mußte, als der Erkenntnis und Würdigung der künstlerischen Eigen¬ arten zweier Meister die wichtigste Grundlage, ihre Originalwerke, entzogen wurde. Allem die Gründe, welche gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben des Periegeten sprachen, waren so schwerwiegend, daß der Autoritätsglaube mehr und mehr ins Schwanken kam, und man sich ans Grund einer besseren Einsicht nicht scheute, das Wort, welches im Stillen vielleicht schon auf vieler Munde geschwebt hatte, offen auszusprechen: Ist unsre literarische Quelle bezüglich ihrer historischen Glaubwürdigkeit auf Treu und Glanben hinzunehmen, oder ist die Kritik berechtigt, an ihrer Zuverlässigkeit zu zweifeln? Gerade die Ausgrabungen von Olympia hatten die Wissenschaft in den Stand gesetzt, an der Hand der Thatsachen, welche die neuen Funde ergeben hatten, die Beschreibung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/237>, abgerufen am 29.04.2024.