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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Wieder die ägyptische Frage.

In dem Umschwung, den die deutsche Geschichte seit den letzten beiden
Jahrzehnten genommen hat, hat der Gegensatz von Liberalismus und Konserva¬
tismus gewissermaßen seinen Gegenstand verloren. In der Abgrenzung der Ge¬
walt zwischen Regierung und Elementen des Volkstums liegen die Dinge so,
daß man mindestens sehr zweifelhaft sein kann, ob eine Erweiterung der Macht¬
sphäre der letztern noch zu erstreben sei. Ebenso ist der individuellen Freiheit
so viel Raum gewährt, daß man zweifeln kann, ob ein noch höheres Maß von
Freiheit im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt zu wünschen sei. Über Ein¬
zelnes mag sich ja streiten lassen. Aber über deu Wert einer Maßregel
sollte doch niemals entscheiden, ob sie konservativ oder liberal, sondern mir ob
sie verständig und heilsam sei. Diese Frage läßt sich schon deshalb nicht nach
abstrakten Prinzipien beantworten, weil sie nach Zeit und Ort ganz verschieden
zu beantworten ist.

Gleichwohl mögen die Männer, die sich von Haus aus zum Liberalismus
bekannt haben, diesen auch jetzt noch als ihr Prinzip bekennen. Sie sind dazu
umsomehr berechtigt, als in der That die liberalen Grundsätze heute die Welt
regieren. Hat doch auch der Reichskanzler erst vor kurzem ausgesprochen:
"Ich glaube, wir sind alle freisinnig." Aber die einsichtsvollen unter jenen
Männern werden sich zugleich bewußt sein, daß sie zu einem verständigen
Konservatismus in keinem absoluten Gegensatze stehen; daß sie vielmehr die
Verständigung nach dieser Seite hin, und nicht etwa, um wieder den alten
Liberalismus auf den Thron zu setzen, nach der radikal-liberalen Seite hin zu
suchen haben. Eben deshalb hat die nationalliberale Partei keinen Grund, den
Namen einer "Mittclpartei" von sich zu weisen. Dieser Name ist so wenig
nichtssagend, daß er vielmehr ihr Stolz sein sollte.




Wieder die ägyptische Frage.

och hat sich das eine Haupt der vielköpfigen Hhdrci, welche wir
in der orientalischen Frage vor uns haben, nicht völlig beruhigt,
und schon regt sich ein zweites, um dem Weltfrieden die Zähne
zu zeigen. Die bulgarische Gefahr scheint sich zu legen, dafür
aber sieht es aus, als ob die ägyptische sich ans dem Halb¬
schlafe, in den wir sie während der letzten beiden Jahre versunken sahen, wieder
erheben wollte. Allerdings ist es bis jetzt nur die französische Presse, die seit
einigen Wochen die Ansprüche Frankreichs aus Einfluß im Nillande von neuem


Wieder die ägyptische Frage.

In dem Umschwung, den die deutsche Geschichte seit den letzten beiden
Jahrzehnten genommen hat, hat der Gegensatz von Liberalismus und Konserva¬
tismus gewissermaßen seinen Gegenstand verloren. In der Abgrenzung der Ge¬
walt zwischen Regierung und Elementen des Volkstums liegen die Dinge so,
daß man mindestens sehr zweifelhaft sein kann, ob eine Erweiterung der Macht¬
sphäre der letztern noch zu erstreben sei. Ebenso ist der individuellen Freiheit
so viel Raum gewährt, daß man zweifeln kann, ob ein noch höheres Maß von
Freiheit im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt zu wünschen sei. Über Ein¬
zelnes mag sich ja streiten lassen. Aber über deu Wert einer Maßregel
sollte doch niemals entscheiden, ob sie konservativ oder liberal, sondern mir ob
sie verständig und heilsam sei. Diese Frage läßt sich schon deshalb nicht nach
abstrakten Prinzipien beantworten, weil sie nach Zeit und Ort ganz verschieden
zu beantworten ist.

Gleichwohl mögen die Männer, die sich von Haus aus zum Liberalismus
bekannt haben, diesen auch jetzt noch als ihr Prinzip bekennen. Sie sind dazu
umsomehr berechtigt, als in der That die liberalen Grundsätze heute die Welt
regieren. Hat doch auch der Reichskanzler erst vor kurzem ausgesprochen:
„Ich glaube, wir sind alle freisinnig." Aber die einsichtsvollen unter jenen
Männern werden sich zugleich bewußt sein, daß sie zu einem verständigen
Konservatismus in keinem absoluten Gegensatze stehen; daß sie vielmehr die
Verständigung nach dieser Seite hin, und nicht etwa, um wieder den alten
Liberalismus auf den Thron zu setzen, nach der radikal-liberalen Seite hin zu
suchen haben. Eben deshalb hat die nationalliberale Partei keinen Grund, den
Namen einer „Mittclpartei" von sich zu weisen. Dieser Name ist so wenig
nichtssagend, daß er vielmehr ihr Stolz sein sollte.




Wieder die ägyptische Frage.

och hat sich das eine Haupt der vielköpfigen Hhdrci, welche wir
in der orientalischen Frage vor uns haben, nicht völlig beruhigt,
und schon regt sich ein zweites, um dem Weltfrieden die Zähne
zu zeigen. Die bulgarische Gefahr scheint sich zu legen, dafür
aber sieht es aus, als ob die ägyptische sich ans dem Halb¬
schlafe, in den wir sie während der letzten beiden Jahre versunken sahen, wieder
erheben wollte. Allerdings ist es bis jetzt nur die französische Presse, die seit
einigen Wochen die Ansprüche Frankreichs aus Einfluß im Nillande von neuem


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[0261] Wieder die ägyptische Frage. In dem Umschwung, den die deutsche Geschichte seit den letzten beiden Jahrzehnten genommen hat, hat der Gegensatz von Liberalismus und Konserva¬ tismus gewissermaßen seinen Gegenstand verloren. In der Abgrenzung der Ge¬ walt zwischen Regierung und Elementen des Volkstums liegen die Dinge so, daß man mindestens sehr zweifelhaft sein kann, ob eine Erweiterung der Macht¬ sphäre der letztern noch zu erstreben sei. Ebenso ist der individuellen Freiheit so viel Raum gewährt, daß man zweifeln kann, ob ein noch höheres Maß von Freiheit im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt zu wünschen sei. Über Ein¬ zelnes mag sich ja streiten lassen. Aber über deu Wert einer Maßregel sollte doch niemals entscheiden, ob sie konservativ oder liberal, sondern mir ob sie verständig und heilsam sei. Diese Frage läßt sich schon deshalb nicht nach abstrakten Prinzipien beantworten, weil sie nach Zeit und Ort ganz verschieden zu beantworten ist. Gleichwohl mögen die Männer, die sich von Haus aus zum Liberalismus bekannt haben, diesen auch jetzt noch als ihr Prinzip bekennen. Sie sind dazu umsomehr berechtigt, als in der That die liberalen Grundsätze heute die Welt regieren. Hat doch auch der Reichskanzler erst vor kurzem ausgesprochen: „Ich glaube, wir sind alle freisinnig." Aber die einsichtsvollen unter jenen Männern werden sich zugleich bewußt sein, daß sie zu einem verständigen Konservatismus in keinem absoluten Gegensatze stehen; daß sie vielmehr die Verständigung nach dieser Seite hin, und nicht etwa, um wieder den alten Liberalismus auf den Thron zu setzen, nach der radikal-liberalen Seite hin zu suchen haben. Eben deshalb hat die nationalliberale Partei keinen Grund, den Namen einer „Mittclpartei" von sich zu weisen. Dieser Name ist so wenig nichtssagend, daß er vielmehr ihr Stolz sein sollte. Wieder die ägyptische Frage. och hat sich das eine Haupt der vielköpfigen Hhdrci, welche wir in der orientalischen Frage vor uns haben, nicht völlig beruhigt, und schon regt sich ein zweites, um dem Weltfrieden die Zähne zu zeigen. Die bulgarische Gefahr scheint sich zu legen, dafür aber sieht es aus, als ob die ägyptische sich ans dem Halb¬ schlafe, in den wir sie während der letzten beiden Jahre versunken sahen, wieder erheben wollte. Allerdings ist es bis jetzt nur die französische Presse, die seit einigen Wochen die Ansprüche Frankreichs aus Einfluß im Nillande von neuem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/261>, abgerufen am 29.04.2024.