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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der ewige Jude.

Zwei Bedenken allerdings können gegen unsre Freunde erhoben werden:
einmal sind sie Katholiken und somit der polnischen Propaganda zugänglicher,
und dann fangen sie an, sich dem Schnapse zu ergeben. Freilich können um¬
gekehrt protestantische Ansiedler die Polen wohl verdrängen, nicht aber auffangen.
Die Gefahr der Polin wenigstens ist für die Haudörflcr nicht vorhanden. Die¬
selben haben den Slowaken gegenüber ein sehr stark ausgezeichnetes Sonder'
bewußtsein. Zwischenheiraten unter beiden Stämmen sind ganz unerhört. Dem
zweiten Übelstande, der Gefahr der Verschnapsung, würde neben der bevor¬
stehenden Branntweinbesteuerung am besten durch irgendeine Fürsorge entgegen¬
getreten, welche die Juden von dem Betriebe der Schankmirtschaft in den be¬
treffenden Dörfern gänzlich fernhielte.




Der ewige Jude.
2.

en tausendjährigen Stillstand der Handlung benutzt der Dichter
dazu, in acht grandiosen, teils monologischen, teils dramatisch
bewegten Bildern den Charakter seines Ahasver näher auszuführen;
im Grunde sprengt er hier schon die dramatische Form seines
Gedichtes, dessen epischen Geist wir gleich anfänglich betont haben.
Aber die Bilder sind an und für sich bedeutend.

Die große Enttäuschung am Untersberg hat Ahasvers Lust am Leben
doch gebrochen. Da ihm der ersehnte lange Schlaf nicht als gewünschte Er¬
lösung zu Teil geworden, mußte er rastlos weiter wandern. So finden wir ihn
am Berge Sinai. Er hält die Trümmer jener ersten Gesetzestafeln, in die
Gott mit eignem Finger seine zehn Gebote eingeschrieben und die Mose beim
Anblick des goldnen Kalbes zerbrochen hat. Ahasver kommeutirt diese zehn
Gebote mit seinem ideal- und glaubenslosen Geiste in sarkastischen Worten
und schließt:


So steht geschrieben, was Jehovah sprach,
Und heute sagen's Millionen nach,
Und thun's, wenn es ihnen just behagt;
Und andre, denen man es nie gesagt,
Befolgen es in gut und schlimmer Zeit
Als ehernes Gebot der Menschlichkeit.
Ich bin zu alt, um das noch zu verstehn;
Für mich paßt keines mehr von diesen Zehn;
Denn ich begehre nichts, was hier verboten;
Nichts von der Welt! Nichts als den Schlaf der Toten!

Der ewige Jude.

Zwei Bedenken allerdings können gegen unsre Freunde erhoben werden:
einmal sind sie Katholiken und somit der polnischen Propaganda zugänglicher,
und dann fangen sie an, sich dem Schnapse zu ergeben. Freilich können um¬
gekehrt protestantische Ansiedler die Polen wohl verdrängen, nicht aber auffangen.
Die Gefahr der Polin wenigstens ist für die Haudörflcr nicht vorhanden. Die¬
selben haben den Slowaken gegenüber ein sehr stark ausgezeichnetes Sonder'
bewußtsein. Zwischenheiraten unter beiden Stämmen sind ganz unerhört. Dem
zweiten Übelstande, der Gefahr der Verschnapsung, würde neben der bevor¬
stehenden Branntweinbesteuerung am besten durch irgendeine Fürsorge entgegen¬
getreten, welche die Juden von dem Betriebe der Schankmirtschaft in den be¬
treffenden Dörfern gänzlich fernhielte.




Der ewige Jude.
2.

en tausendjährigen Stillstand der Handlung benutzt der Dichter
dazu, in acht grandiosen, teils monologischen, teils dramatisch
bewegten Bildern den Charakter seines Ahasver näher auszuführen;
im Grunde sprengt er hier schon die dramatische Form seines
Gedichtes, dessen epischen Geist wir gleich anfänglich betont haben.
Aber die Bilder sind an und für sich bedeutend.

Die große Enttäuschung am Untersberg hat Ahasvers Lust am Leben
doch gebrochen. Da ihm der ersehnte lange Schlaf nicht als gewünschte Er¬
lösung zu Teil geworden, mußte er rastlos weiter wandern. So finden wir ihn
am Berge Sinai. Er hält die Trümmer jener ersten Gesetzestafeln, in die
Gott mit eignem Finger seine zehn Gebote eingeschrieben und die Mose beim
Anblick des goldnen Kalbes zerbrochen hat. Ahasver kommeutirt diese zehn
Gebote mit seinem ideal- und glaubenslosen Geiste in sarkastischen Worten
und schließt:


So steht geschrieben, was Jehovah sprach,
Und heute sagen's Millionen nach,
Und thun's, wenn es ihnen just behagt;
Und andre, denen man es nie gesagt,
Befolgen es in gut und schlimmer Zeit
Als ehernes Gebot der Menschlichkeit.
Ich bin zu alt, um das noch zu verstehn;
Für mich paßt keines mehr von diesen Zehn;
Denn ich begehre nichts, was hier verboten;
Nichts von der Welt! Nichts als den Schlaf der Toten!

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[0276] Der ewige Jude. Zwei Bedenken allerdings können gegen unsre Freunde erhoben werden: einmal sind sie Katholiken und somit der polnischen Propaganda zugänglicher, und dann fangen sie an, sich dem Schnapse zu ergeben. Freilich können um¬ gekehrt protestantische Ansiedler die Polen wohl verdrängen, nicht aber auffangen. Die Gefahr der Polin wenigstens ist für die Haudörflcr nicht vorhanden. Die¬ selben haben den Slowaken gegenüber ein sehr stark ausgezeichnetes Sonder' bewußtsein. Zwischenheiraten unter beiden Stämmen sind ganz unerhört. Dem zweiten Übelstande, der Gefahr der Verschnapsung, würde neben der bevor¬ stehenden Branntweinbesteuerung am besten durch irgendeine Fürsorge entgegen¬ getreten, welche die Juden von dem Betriebe der Schankmirtschaft in den be¬ treffenden Dörfern gänzlich fernhielte. Der ewige Jude. 2. en tausendjährigen Stillstand der Handlung benutzt der Dichter dazu, in acht grandiosen, teils monologischen, teils dramatisch bewegten Bildern den Charakter seines Ahasver näher auszuführen; im Grunde sprengt er hier schon die dramatische Form seines Gedichtes, dessen epischen Geist wir gleich anfänglich betont haben. Aber die Bilder sind an und für sich bedeutend. Die große Enttäuschung am Untersberg hat Ahasvers Lust am Leben doch gebrochen. Da ihm der ersehnte lange Schlaf nicht als gewünschte Er¬ lösung zu Teil geworden, mußte er rastlos weiter wandern. So finden wir ihn am Berge Sinai. Er hält die Trümmer jener ersten Gesetzestafeln, in die Gott mit eignem Finger seine zehn Gebote eingeschrieben und die Mose beim Anblick des goldnen Kalbes zerbrochen hat. Ahasver kommeutirt diese zehn Gebote mit seinem ideal- und glaubenslosen Geiste in sarkastischen Worten und schließt: So steht geschrieben, was Jehovah sprach, Und heute sagen's Millionen nach, Und thun's, wenn es ihnen just behagt; Und andre, denen man es nie gesagt, Befolgen es in gut und schlimmer Zeit Als ehernes Gebot der Menschlichkeit. Ich bin zu alt, um das noch zu verstehn; Für mich paßt keines mehr von diesen Zehn; Denn ich begehre nichts, was hier verboten; Nichts von der Welt! Nichts als den Schlaf der Toten!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/276>, abgerufen am 29.04.2024.