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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Goethes Lila.
von Lügen Reiche!.

Denn ein vollkommner Widerspruch
Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Thoren.

Goethe.

me der sonderbarsten "Eigenheiten" Goethes war seine Neigung
zum Geheimnisvvlleu. Er, der mit besondrer Vorliebe sich an
die Natur hielt und ihr mit nüchternem Forschungseifer auf den
Leib zu rücken suchte, konnte sich, so lange er lebte, dem Zauber
des Unklaren, des Geheimnisvoller nicht entziehen; das " Uner-
forschliche" zu "verehren" war ihm ein Bedürfnis. Aber er war nicht nur
geneigt, vor dem "Unerforschlichen," dem Rätselhaften verehrend oder auch Tief¬
sinniges ahnend auszuruhen, sondern er liebte es auch, seinem Publikum, für
das er nur wenig Achtung hegte, selbst solche Rätsel aufzugeben. Vielleicht that
er das, um dieses geringgeschätzte Publikum zum Besten zu haben; vielleicht
aber auch, weil es ihn reizte, von der Welt gelegentlich nicht nur für einen
schwer zu übersehenden, sondern anch für einen unerforschlich tiefsinnigen Dichter
gehalten zu werden. So entstand das "Märchen," das beschäftigungslose
Forscher schon vielfach in unfruchtbarster Weise beschäftigt hat; so entstand
vieles im "Faust," der ja in einer Menge von Einzelheiten den Menschen "ein
Rätsel geblieben ist und ihnen fort und fort zu schaffen gemacht hat"*); so
entstand außer manchem andern, woran wir uns die Zähne zerbeiße", auch die
"Lila," mit der wir uns hier ein wenig beschäftigen wollen.

Die erste Fassung der Dichtung ist verloren gegangen, sie wurde wahrschein¬
lich im Dezember 1776 niedergeschrieben; am 80. Januar 1777, dem Geburts¬
tage der Herzogin Louise, fand die erste Aufführung des Werkes statt. Gründe
persönlicher Art scheinen Goethe die Gelegenheitsarbeit wertvoll gemacht zu
haben; wenigstens wissen wir, daß er im Februar 1778 mit einer Umarbeitung
derselben beschäftigt war, die aber ebenfalls abhanden gekommen ist. Als er
dann in Italien die Arbeiten für die erste Ausgabe seiner Werke beendete, nahm
er seltsamerweise das unbedeutende Werk nochmals vor und berichtete darüber
am 1. Februar 1788 von Rom aus, daß "das Werk so um- und ausgearbeitet
werde, daß man es nicht mehr kennen solle." In dieser letzten, dritten Gestalt



*) Goethe schrieb mit Beziehung auf den "Faust" um Zelter, das; es "keine Kleinigkeit
sei, dem fertig hingestellten "och einige Mmitelfaltcn einzuschlagen, damit alles zusammen
ein offenbares Rätsel bleibe und den Menschen fort und fort zu schaffen mache."
Goethes Lila.
von Lügen Reiche!.

Denn ein vollkommner Widerspruch
Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Thoren.

Goethe.

me der sonderbarsten „Eigenheiten" Goethes war seine Neigung
zum Geheimnisvvlleu. Er, der mit besondrer Vorliebe sich an
die Natur hielt und ihr mit nüchternem Forschungseifer auf den
Leib zu rücken suchte, konnte sich, so lange er lebte, dem Zauber
des Unklaren, des Geheimnisvoller nicht entziehen; das „ Uner-
forschliche" zu „verehren" war ihm ein Bedürfnis. Aber er war nicht nur
geneigt, vor dem „Unerforschlichen," dem Rätselhaften verehrend oder auch Tief¬
sinniges ahnend auszuruhen, sondern er liebte es auch, seinem Publikum, für
das er nur wenig Achtung hegte, selbst solche Rätsel aufzugeben. Vielleicht that
er das, um dieses geringgeschätzte Publikum zum Besten zu haben; vielleicht
aber auch, weil es ihn reizte, von der Welt gelegentlich nicht nur für einen
schwer zu übersehenden, sondern anch für einen unerforschlich tiefsinnigen Dichter
gehalten zu werden. So entstand das „Märchen," das beschäftigungslose
Forscher schon vielfach in unfruchtbarster Weise beschäftigt hat; so entstand
vieles im „Faust," der ja in einer Menge von Einzelheiten den Menschen „ein
Rätsel geblieben ist und ihnen fort und fort zu schaffen gemacht hat"*); so
entstand außer manchem andern, woran wir uns die Zähne zerbeiße», auch die
„Lila," mit der wir uns hier ein wenig beschäftigen wollen.

Die erste Fassung der Dichtung ist verloren gegangen, sie wurde wahrschein¬
lich im Dezember 1776 niedergeschrieben; am 80. Januar 1777, dem Geburts¬
tage der Herzogin Louise, fand die erste Aufführung des Werkes statt. Gründe
persönlicher Art scheinen Goethe die Gelegenheitsarbeit wertvoll gemacht zu
haben; wenigstens wissen wir, daß er im Februar 1778 mit einer Umarbeitung
derselben beschäftigt war, die aber ebenfalls abhanden gekommen ist. Als er
dann in Italien die Arbeiten für die erste Ausgabe seiner Werke beendete, nahm
er seltsamerweise das unbedeutende Werk nochmals vor und berichtete darüber
am 1. Februar 1788 von Rom aus, daß „das Werk so um- und ausgearbeitet
werde, daß man es nicht mehr kennen solle." In dieser letzten, dritten Gestalt



*) Goethe schrieb mit Beziehung auf den „Faust" um Zelter, das; es „keine Kleinigkeit
sei, dem fertig hingestellten «och einige Mmitelfaltcn einzuschlagen, damit alles zusammen
ein offenbares Rätsel bleibe und den Menschen fort und fort zu schaffen mache."
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[0030] Goethes Lila. von Lügen Reiche!. Denn ein vollkommner Widerspruch Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Thoren. Goethe. me der sonderbarsten „Eigenheiten" Goethes war seine Neigung zum Geheimnisvvlleu. Er, der mit besondrer Vorliebe sich an die Natur hielt und ihr mit nüchternem Forschungseifer auf den Leib zu rücken suchte, konnte sich, so lange er lebte, dem Zauber des Unklaren, des Geheimnisvoller nicht entziehen; das „ Uner- forschliche" zu „verehren" war ihm ein Bedürfnis. Aber er war nicht nur geneigt, vor dem „Unerforschlichen," dem Rätselhaften verehrend oder auch Tief¬ sinniges ahnend auszuruhen, sondern er liebte es auch, seinem Publikum, für das er nur wenig Achtung hegte, selbst solche Rätsel aufzugeben. Vielleicht that er das, um dieses geringgeschätzte Publikum zum Besten zu haben; vielleicht aber auch, weil es ihn reizte, von der Welt gelegentlich nicht nur für einen schwer zu übersehenden, sondern anch für einen unerforschlich tiefsinnigen Dichter gehalten zu werden. So entstand das „Märchen," das beschäftigungslose Forscher schon vielfach in unfruchtbarster Weise beschäftigt hat; so entstand vieles im „Faust," der ja in einer Menge von Einzelheiten den Menschen „ein Rätsel geblieben ist und ihnen fort und fort zu schaffen gemacht hat"*); so entstand außer manchem andern, woran wir uns die Zähne zerbeiße», auch die „Lila," mit der wir uns hier ein wenig beschäftigen wollen. Die erste Fassung der Dichtung ist verloren gegangen, sie wurde wahrschein¬ lich im Dezember 1776 niedergeschrieben; am 80. Januar 1777, dem Geburts¬ tage der Herzogin Louise, fand die erste Aufführung des Werkes statt. Gründe persönlicher Art scheinen Goethe die Gelegenheitsarbeit wertvoll gemacht zu haben; wenigstens wissen wir, daß er im Februar 1778 mit einer Umarbeitung derselben beschäftigt war, die aber ebenfalls abhanden gekommen ist. Als er dann in Italien die Arbeiten für die erste Ausgabe seiner Werke beendete, nahm er seltsamerweise das unbedeutende Werk nochmals vor und berichtete darüber am 1. Februar 1788 von Rom aus, daß „das Werk so um- und ausgearbeitet werde, daß man es nicht mehr kennen solle." In dieser letzten, dritten Gestalt *) Goethe schrieb mit Beziehung auf den „Faust" um Zelter, das; es „keine Kleinigkeit sei, dem fertig hingestellten «och einige Mmitelfaltcn einzuschlagen, damit alles zusammen ein offenbares Rätsel bleibe und den Menschen fort und fort zu schaffen mache."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/30>, abgerufen am 29.04.2024.