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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstazswahlen.

Daß die deutsch-österreichische Ministerpartei verstimmt ist, würde mir nicht
aufgefallen sein. Aber ich höre, daß sie ein halbes Jahr oder länger sehr
hoffnungsfroh gewesen sein soll. Sie scheint wieder einmal aus den Mienen
des Ministerpräsidenten herausgelesen zu haben, daß er seinen Kollegen über¬
drüssig sei. Darum war die Parole ausgegeben worden: "Phe pst! Kein Ge¬
räusch gemacht, damit wirs uicht überhören, wenn er uns ruft. Phe pst! Nicht
zu deutsch, damit er nicht scheu wird." Doch mitten aus dem blauen Himmel
fällt eine Verfügung des Justizministers herab, welche die völlige Tschechisirung
des Nichterstandes in Böhmen zum Zwecke hat. Und nun ertönen bittere Klagen:
"Wir waren doch so brav! Wir fangen nicht leicht an, aber wenn wir einmal
anfangen --!" Auch sie sind glücklich die Alten geblieben.




Das Wachstum der Sozialdemokratie
nach der Statistik der Reichstagswahlen ^867--^88^.

le Wahlen zum koustituirenden norddeutschen Reichstage fanden
im Februar, die Wahlen für die erste Legislaturperiode am letzten
August des Jahres 1867 statt. In dieser Zeit war von einer
einheitlichen Bewegung in der Arbeiterwelt uoch keine Rede. Im
Lager der von Lassalle gesammelten Truppen, dem Allgemeinen
deutschen Arbeitervereine, herrschte Streit und Zerfahrenheit, bis Schweitzer im
Mai 186? an ihre Spitze trat und sie zu ihren ersten Siegen führte. Daneben
vollzog sich der Abfall des 1863 gegen Lassalle gegründeten Verbandes deutscher
Arbeitervereine von der Fortschrittspartei und sein Übergang zum internationalen
Kommunismus. Bebel hatte im Jahre zuvor die sächsische Volkspartei mit
gründen helfen und schwang sich auf dem Verbandstage zu Gera 1867 nach
heftiger Gegenwehr des Dr. Max Hirsch zum Vorsitzenden des ständigen Aus¬
schusses des Verbandes auf, während sein Lehrmeister Liebknecht noch ganz in
einem mit großdentschen und Partikularistischen Phrasen reich verbrämten Radi¬
kalismus aufzugehen schien.

Im kvnstituirenden Reichstage saß von den Arbeiterführern nur der für
Glauchau gewählte Bebel, welcher zusammen mit dem Advokaten Schraps die
sächsische Volkspartei vertrat. Letztere wurde im ersten ordentlichen Reichstage
noch durch Liebknecht verstärkt, den der sächsische Wahlkreis Stollberg entsandt
hatte, während die Fraktion der Lassalleaner drei Köpfe stark erschien: Schweitzer
siegte in Elberfeld-Barmer in der engeren Wahl gegen den Fortschrittler Löwe-


Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstazswahlen.

Daß die deutsch-österreichische Ministerpartei verstimmt ist, würde mir nicht
aufgefallen sein. Aber ich höre, daß sie ein halbes Jahr oder länger sehr
hoffnungsfroh gewesen sein soll. Sie scheint wieder einmal aus den Mienen
des Ministerpräsidenten herausgelesen zu haben, daß er seinen Kollegen über¬
drüssig sei. Darum war die Parole ausgegeben worden: „Phe pst! Kein Ge¬
räusch gemacht, damit wirs uicht überhören, wenn er uns ruft. Phe pst! Nicht
zu deutsch, damit er nicht scheu wird." Doch mitten aus dem blauen Himmel
fällt eine Verfügung des Justizministers herab, welche die völlige Tschechisirung
des Nichterstandes in Böhmen zum Zwecke hat. Und nun ertönen bittere Klagen:
„Wir waren doch so brav! Wir fangen nicht leicht an, aber wenn wir einmal
anfangen —!" Auch sie sind glücklich die Alten geblieben.




Das Wachstum der Sozialdemokratie
nach der Statistik der Reichstagswahlen ^867—^88^.

le Wahlen zum koustituirenden norddeutschen Reichstage fanden
im Februar, die Wahlen für die erste Legislaturperiode am letzten
August des Jahres 1867 statt. In dieser Zeit war von einer
einheitlichen Bewegung in der Arbeiterwelt uoch keine Rede. Im
Lager der von Lassalle gesammelten Truppen, dem Allgemeinen
deutschen Arbeitervereine, herrschte Streit und Zerfahrenheit, bis Schweitzer im
Mai 186? an ihre Spitze trat und sie zu ihren ersten Siegen führte. Daneben
vollzog sich der Abfall des 1863 gegen Lassalle gegründeten Verbandes deutscher
Arbeitervereine von der Fortschrittspartei und sein Übergang zum internationalen
Kommunismus. Bebel hatte im Jahre zuvor die sächsische Volkspartei mit
gründen helfen und schwang sich auf dem Verbandstage zu Gera 1867 nach
heftiger Gegenwehr des Dr. Max Hirsch zum Vorsitzenden des ständigen Aus¬
schusses des Verbandes auf, während sein Lehrmeister Liebknecht noch ganz in
einem mit großdentschen und Partikularistischen Phrasen reich verbrämten Radi¬
kalismus aufzugehen schien.

Im kvnstituirenden Reichstage saß von den Arbeiterführern nur der für
Glauchau gewählte Bebel, welcher zusammen mit dem Advokaten Schraps die
sächsische Volkspartei vertrat. Letztere wurde im ersten ordentlichen Reichstage
noch durch Liebknecht verstärkt, den der sächsische Wahlkreis Stollberg entsandt
hatte, während die Fraktion der Lassalleaner drei Köpfe stark erschien: Schweitzer
siegte in Elberfeld-Barmer in der engeren Wahl gegen den Fortschrittler Löwe-


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[0311] Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstazswahlen. Daß die deutsch-österreichische Ministerpartei verstimmt ist, würde mir nicht aufgefallen sein. Aber ich höre, daß sie ein halbes Jahr oder länger sehr hoffnungsfroh gewesen sein soll. Sie scheint wieder einmal aus den Mienen des Ministerpräsidenten herausgelesen zu haben, daß er seinen Kollegen über¬ drüssig sei. Darum war die Parole ausgegeben worden: „Phe pst! Kein Ge¬ räusch gemacht, damit wirs uicht überhören, wenn er uns ruft. Phe pst! Nicht zu deutsch, damit er nicht scheu wird." Doch mitten aus dem blauen Himmel fällt eine Verfügung des Justizministers herab, welche die völlige Tschechisirung des Nichterstandes in Böhmen zum Zwecke hat. Und nun ertönen bittere Klagen: „Wir waren doch so brav! Wir fangen nicht leicht an, aber wenn wir einmal anfangen —!" Auch sie sind glücklich die Alten geblieben. Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen ^867—^88^. le Wahlen zum koustituirenden norddeutschen Reichstage fanden im Februar, die Wahlen für die erste Legislaturperiode am letzten August des Jahres 1867 statt. In dieser Zeit war von einer einheitlichen Bewegung in der Arbeiterwelt uoch keine Rede. Im Lager der von Lassalle gesammelten Truppen, dem Allgemeinen deutschen Arbeitervereine, herrschte Streit und Zerfahrenheit, bis Schweitzer im Mai 186? an ihre Spitze trat und sie zu ihren ersten Siegen führte. Daneben vollzog sich der Abfall des 1863 gegen Lassalle gegründeten Verbandes deutscher Arbeitervereine von der Fortschrittspartei und sein Übergang zum internationalen Kommunismus. Bebel hatte im Jahre zuvor die sächsische Volkspartei mit gründen helfen und schwang sich auf dem Verbandstage zu Gera 1867 nach heftiger Gegenwehr des Dr. Max Hirsch zum Vorsitzenden des ständigen Aus¬ schusses des Verbandes auf, während sein Lehrmeister Liebknecht noch ganz in einem mit großdentschen und Partikularistischen Phrasen reich verbrämten Radi¬ kalismus aufzugehen schien. Im kvnstituirenden Reichstage saß von den Arbeiterführern nur der für Glauchau gewählte Bebel, welcher zusammen mit dem Advokaten Schraps die sächsische Volkspartei vertrat. Letztere wurde im ersten ordentlichen Reichstage noch durch Liebknecht verstärkt, den der sächsische Wahlkreis Stollberg entsandt hatte, während die Fraktion der Lassalleaner drei Köpfe stark erschien: Schweitzer siegte in Elberfeld-Barmer in der engeren Wahl gegen den Fortschrittler Löwe-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/311>, abgerufen am 29.04.2024.