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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.
von Rarl Lieblich.

le gewaltige und gewaltsame Persönlichkeit Heinrichs von Kleist
wirkt auf jeden, der ihr nahetritt, in zweifacher Weise: anziehend
und abstoßend. Zu tiefem Mitleiden stimmt uns das nachfühlen
der leidenschaftlichen Kämpfe, welche dus ruhelose Herz dieses
Dichters, sich selbst zermarternd und vernichtend, im Ringen nach
einem allzu hohen Ziele durchzukämpfen hatte; unbegreiflich, fast abstoßend ist
es uns, daß Kleist in dem Streben nach dem Unerreichbarem in der Kunst alle
andern schönen Geschenke des Lebens eigensinnig zurückwies. Gern stellen wir
Betrachtungen darüber an, wie weit Kleist mit andern geistig ringenden Naturen
ein gleiches Schicksal teilte, wie weit er, tragische Schuld auf sich ladend, vom
Wege des allgemein Menschlichen sich verirrte. Nach der herrschenden Meinung
soll Kleists Bahn von derjenigen andrer hochstrebenden Geister von Anbeginn
völlig getrennt gewesen sein; man nimmt an, daß er beispiellos spät zur Er¬
kenntnis seiner Poetischen Fähigkeiten gelangt sei. Während das Genie, eine
seinen Trägern unzweifelhaft angeborne Gabe, die Schwingen frühzeitig zu regen
pflegt, soll Kleist seine Flügelschläge als Mann zum erstenmale verspürt haben.
"Seinen Beruf zum Schriftsteller hat Kleist in Würzburg entdeckt, das ist sicher.
Daß er auch den Poeten entdeckt hätte, läßt sich höchstens vermuten," schreibt
Otto Brechen in seinem Buche über Kleist, und andre Äußerungen Bruhns
wiederholen die Ansicht von der Unklarheit, in welcher sich Heinrich vor der
Würzburger Reise über seine dichterischen Anlagen befunden habe.

Heinrich von Kleist, der sein Liebes- und Lebensglück opferte, um sich ganz
der Dichtkunst zu weihen, der dichtete, "weil er es uicht lassen konnte" -- er
soll im Alter von dreiundzwanzig Jahren zuerst die Glut verspürt haben,
deren Flammen ihn verzehren sollten! Nichts ist psychologisch unwahrscheinlicher,
als dies, nichts ist in der That unwahrer. Man hat seither den Dichter zu sehr
nach dem beurteilt, was er in seinen Äußerungen enthüllt, zu wenig nach dem,
was er in denselben verbirgt oder nur halb entschleiert. Kleist hatte eine wunder¬
lich festgewurzelte Neigung, den Angen der Außenwelt jeden Einblick in seine
inneren Vorgänge zu verwehren. Sein Herz lebte immer in einer eignen hyper¬
idealen Welt, in die das Verständnis der Welt nicht eindringen konnte. "Tausend
Baude (schreibt er am 12. November 1?99 an seine Schwester Ulrike) knüpfen
die Menschen aneinander, gleiche Meinungen, gleiche Interessen, gleiche Wünsche,
Hoffnungen und Aussichten -- alle diese Bande knüpfen mich nicht an sie,


Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.
von Rarl Lieblich.

le gewaltige und gewaltsame Persönlichkeit Heinrichs von Kleist
wirkt auf jeden, der ihr nahetritt, in zweifacher Weise: anziehend
und abstoßend. Zu tiefem Mitleiden stimmt uns das nachfühlen
der leidenschaftlichen Kämpfe, welche dus ruhelose Herz dieses
Dichters, sich selbst zermarternd und vernichtend, im Ringen nach
einem allzu hohen Ziele durchzukämpfen hatte; unbegreiflich, fast abstoßend ist
es uns, daß Kleist in dem Streben nach dem Unerreichbarem in der Kunst alle
andern schönen Geschenke des Lebens eigensinnig zurückwies. Gern stellen wir
Betrachtungen darüber an, wie weit Kleist mit andern geistig ringenden Naturen
ein gleiches Schicksal teilte, wie weit er, tragische Schuld auf sich ladend, vom
Wege des allgemein Menschlichen sich verirrte. Nach der herrschenden Meinung
soll Kleists Bahn von derjenigen andrer hochstrebenden Geister von Anbeginn
völlig getrennt gewesen sein; man nimmt an, daß er beispiellos spät zur Er¬
kenntnis seiner Poetischen Fähigkeiten gelangt sei. Während das Genie, eine
seinen Trägern unzweifelhaft angeborne Gabe, die Schwingen frühzeitig zu regen
pflegt, soll Kleist seine Flügelschläge als Mann zum erstenmale verspürt haben.
„Seinen Beruf zum Schriftsteller hat Kleist in Würzburg entdeckt, das ist sicher.
Daß er auch den Poeten entdeckt hätte, läßt sich höchstens vermuten," schreibt
Otto Brechen in seinem Buche über Kleist, und andre Äußerungen Bruhns
wiederholen die Ansicht von der Unklarheit, in welcher sich Heinrich vor der
Würzburger Reise über seine dichterischen Anlagen befunden habe.

Heinrich von Kleist, der sein Liebes- und Lebensglück opferte, um sich ganz
der Dichtkunst zu weihen, der dichtete, „weil er es uicht lassen konnte" — er
soll im Alter von dreiundzwanzig Jahren zuerst die Glut verspürt haben,
deren Flammen ihn verzehren sollten! Nichts ist psychologisch unwahrscheinlicher,
als dies, nichts ist in der That unwahrer. Man hat seither den Dichter zu sehr
nach dem beurteilt, was er in seinen Äußerungen enthüllt, zu wenig nach dem,
was er in denselben verbirgt oder nur halb entschleiert. Kleist hatte eine wunder¬
lich festgewurzelte Neigung, den Angen der Außenwelt jeden Einblick in seine
inneren Vorgänge zu verwehren. Sein Herz lebte immer in einer eignen hyper¬
idealen Welt, in die das Verständnis der Welt nicht eindringen konnte. „Tausend
Baude (schreibt er am 12. November 1?99 an seine Schwester Ulrike) knüpfen
die Menschen aneinander, gleiche Meinungen, gleiche Interessen, gleiche Wünsche,
Hoffnungen und Aussichten — alle diese Bande knüpfen mich nicht an sie,


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[0326] Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist. von Rarl Lieblich. le gewaltige und gewaltsame Persönlichkeit Heinrichs von Kleist wirkt auf jeden, der ihr nahetritt, in zweifacher Weise: anziehend und abstoßend. Zu tiefem Mitleiden stimmt uns das nachfühlen der leidenschaftlichen Kämpfe, welche dus ruhelose Herz dieses Dichters, sich selbst zermarternd und vernichtend, im Ringen nach einem allzu hohen Ziele durchzukämpfen hatte; unbegreiflich, fast abstoßend ist es uns, daß Kleist in dem Streben nach dem Unerreichbarem in der Kunst alle andern schönen Geschenke des Lebens eigensinnig zurückwies. Gern stellen wir Betrachtungen darüber an, wie weit Kleist mit andern geistig ringenden Naturen ein gleiches Schicksal teilte, wie weit er, tragische Schuld auf sich ladend, vom Wege des allgemein Menschlichen sich verirrte. Nach der herrschenden Meinung soll Kleists Bahn von derjenigen andrer hochstrebenden Geister von Anbeginn völlig getrennt gewesen sein; man nimmt an, daß er beispiellos spät zur Er¬ kenntnis seiner Poetischen Fähigkeiten gelangt sei. Während das Genie, eine seinen Trägern unzweifelhaft angeborne Gabe, die Schwingen frühzeitig zu regen pflegt, soll Kleist seine Flügelschläge als Mann zum erstenmale verspürt haben. „Seinen Beruf zum Schriftsteller hat Kleist in Würzburg entdeckt, das ist sicher. Daß er auch den Poeten entdeckt hätte, läßt sich höchstens vermuten," schreibt Otto Brechen in seinem Buche über Kleist, und andre Äußerungen Bruhns wiederholen die Ansicht von der Unklarheit, in welcher sich Heinrich vor der Würzburger Reise über seine dichterischen Anlagen befunden habe. Heinrich von Kleist, der sein Liebes- und Lebensglück opferte, um sich ganz der Dichtkunst zu weihen, der dichtete, „weil er es uicht lassen konnte" — er soll im Alter von dreiundzwanzig Jahren zuerst die Glut verspürt haben, deren Flammen ihn verzehren sollten! Nichts ist psychologisch unwahrscheinlicher, als dies, nichts ist in der That unwahrer. Man hat seither den Dichter zu sehr nach dem beurteilt, was er in seinen Äußerungen enthüllt, zu wenig nach dem, was er in denselben verbirgt oder nur halb entschleiert. Kleist hatte eine wunder¬ lich festgewurzelte Neigung, den Angen der Außenwelt jeden Einblick in seine inneren Vorgänge zu verwehren. Sein Herz lebte immer in einer eignen hyper¬ idealen Welt, in die das Verständnis der Welt nicht eindringen konnte. „Tausend Baude (schreibt er am 12. November 1?99 an seine Schwester Ulrike) knüpfen die Menschen aneinander, gleiche Meinungen, gleiche Interessen, gleiche Wünsche, Hoffnungen und Aussichten — alle diese Bande knüpfen mich nicht an sie,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/326>, abgerufen am 29.04.2024.