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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

Weg zu eröffnen und mag aus manchem verkommenen Jungen noch ein nütz¬
liches Mitglied der menschlichen Gesellschaft machen.

An einem heitern Frühlingsabend besuchte ich einen der weit entlegenen
Parks in Ost-London. Bei der Ausdehnung jeder Großstadt ist es von Wichtig¬
keit, daß größere Wiesen- oder Waldflächen unbebaut liegen bleiben. Wenn
die Stadt sie später umschlossen hat, so werden sie dann als Parks dem
Publikum zur Benutzung eröffnet. Außerdem aber war es in London eine oft
wiederholte Forderung, die Wiesenflächen der Parks im Osten zu Spielplätzen
für die Jugend herzurichten. Der Engländer mißt dem Spiele hohe Bedeutung
für die Erziehung der Jugend bei. Abgesehen davon, daß die englischen Spiele
den Leib gewandt machen und fast alle Muskeln in gleicher Weise kräftigen,
glaubt der Engländer auch an ihren sittlichen Wert. "Bei diesen Spielen
-- versicherte mir ein englischer Schulmann -- hat mancher junge Taugenichts
zum erstenmale Regeln befolgen und seinen Willen einem allgemeinen Besten
unterordnen gelernt." Auf einem der neuangelegeen Spielplätze fand ich meinen
Freund aus Tvynbee-Hall mitten unter einer Schar von ärmlich gekleideten
Jungen. Als er mich sah, wandte er sich einen Augenblick vom Spiele ab.
"Glauben Sie -- sagte er im Laufe des Gesprächs --, diese Spielplätze hier
in Ost-London sind für die Nation von nicht geringerer Bedeutung als die wohl¬
gepflegten Nascngründe um die Etonschule. Aber die bloßen Vorrichtungen
für unsre Nationalspiele, welche man endlich im größerm Maßstabe angelegt hat,
nutzen an sich noch wenig. Trotz der schönsten Spielplätze würde keiner dieser
Jungen, fixe Kerle sonst, wie Sie sehen, von selbst und ohne Anleitung zu
spielen angefangen haben." Mein Freund kehrte wieder zum Spiele zurück,
und als er den Ball in weitem Bogen seinem Gegner zuwarf, zeigte mir das
Jauchzen der Jungen, daß sie den rechten Lehrmeister zu dem nationalsten ihrer
Spiele gefunden hatten, dem Criquet, das schon im Jahre 1746 besungen wurde:
4Is.it oriansl kunt, thou riraul/ britisu Mino! (Schluß folgt.)




Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

ruhe, äußerst trübe sind die Aussichten, welche ein Blick auf die
deutsche Kriminalität der Gegenwart eröffnet, so trübe, daß auch
der eingefleischteste Optimist mit Rücksicht auf sie an der Richtig¬
keit seiner Weltanschauung schwankend werden muß. Was hilft
es, daß dank der Gesundung unsrer wirtschaftlichen Verhältnisse
die Verbrechen gegen das Vermögen sich vermindern, wenn die Nvhheits- und
Gewaltthätigkeitsvergehen von Jahr zu Jahr zunehmen, wenn sie, je länger je


Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

Weg zu eröffnen und mag aus manchem verkommenen Jungen noch ein nütz¬
liches Mitglied der menschlichen Gesellschaft machen.

An einem heitern Frühlingsabend besuchte ich einen der weit entlegenen
Parks in Ost-London. Bei der Ausdehnung jeder Großstadt ist es von Wichtig¬
keit, daß größere Wiesen- oder Waldflächen unbebaut liegen bleiben. Wenn
die Stadt sie später umschlossen hat, so werden sie dann als Parks dem
Publikum zur Benutzung eröffnet. Außerdem aber war es in London eine oft
wiederholte Forderung, die Wiesenflächen der Parks im Osten zu Spielplätzen
für die Jugend herzurichten. Der Engländer mißt dem Spiele hohe Bedeutung
für die Erziehung der Jugend bei. Abgesehen davon, daß die englischen Spiele
den Leib gewandt machen und fast alle Muskeln in gleicher Weise kräftigen,
glaubt der Engländer auch an ihren sittlichen Wert. „Bei diesen Spielen
— versicherte mir ein englischer Schulmann — hat mancher junge Taugenichts
zum erstenmale Regeln befolgen und seinen Willen einem allgemeinen Besten
unterordnen gelernt." Auf einem der neuangelegeen Spielplätze fand ich meinen
Freund aus Tvynbee-Hall mitten unter einer Schar von ärmlich gekleideten
Jungen. Als er mich sah, wandte er sich einen Augenblick vom Spiele ab.
„Glauben Sie — sagte er im Laufe des Gesprächs —, diese Spielplätze hier
in Ost-London sind für die Nation von nicht geringerer Bedeutung als die wohl¬
gepflegten Nascngründe um die Etonschule. Aber die bloßen Vorrichtungen
für unsre Nationalspiele, welche man endlich im größerm Maßstabe angelegt hat,
nutzen an sich noch wenig. Trotz der schönsten Spielplätze würde keiner dieser
Jungen, fixe Kerle sonst, wie Sie sehen, von selbst und ohne Anleitung zu
spielen angefangen haben." Mein Freund kehrte wieder zum Spiele zurück,
und als er den Ball in weitem Bogen seinem Gegner zuwarf, zeigte mir das
Jauchzen der Jungen, daß sie den rechten Lehrmeister zu dem nationalsten ihrer
Spiele gefunden hatten, dem Criquet, das schon im Jahre 1746 besungen wurde:
4Is.it oriansl kunt, thou riraul/ britisu Mino! (Schluß folgt.)




Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

ruhe, äußerst trübe sind die Aussichten, welche ein Blick auf die
deutsche Kriminalität der Gegenwart eröffnet, so trübe, daß auch
der eingefleischteste Optimist mit Rücksicht auf sie an der Richtig¬
keit seiner Weltanschauung schwankend werden muß. Was hilft
es, daß dank der Gesundung unsrer wirtschaftlichen Verhältnisse
die Verbrechen gegen das Vermögen sich vermindern, wenn die Nvhheits- und
Gewaltthätigkeitsvergehen von Jahr zu Jahr zunehmen, wenn sie, je länger je


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[0482] Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. Weg zu eröffnen und mag aus manchem verkommenen Jungen noch ein nütz¬ liches Mitglied der menschlichen Gesellschaft machen. An einem heitern Frühlingsabend besuchte ich einen der weit entlegenen Parks in Ost-London. Bei der Ausdehnung jeder Großstadt ist es von Wichtig¬ keit, daß größere Wiesen- oder Waldflächen unbebaut liegen bleiben. Wenn die Stadt sie später umschlossen hat, so werden sie dann als Parks dem Publikum zur Benutzung eröffnet. Außerdem aber war es in London eine oft wiederholte Forderung, die Wiesenflächen der Parks im Osten zu Spielplätzen für die Jugend herzurichten. Der Engländer mißt dem Spiele hohe Bedeutung für die Erziehung der Jugend bei. Abgesehen davon, daß die englischen Spiele den Leib gewandt machen und fast alle Muskeln in gleicher Weise kräftigen, glaubt der Engländer auch an ihren sittlichen Wert. „Bei diesen Spielen — versicherte mir ein englischer Schulmann — hat mancher junge Taugenichts zum erstenmale Regeln befolgen und seinen Willen einem allgemeinen Besten unterordnen gelernt." Auf einem der neuangelegeen Spielplätze fand ich meinen Freund aus Tvynbee-Hall mitten unter einer Schar von ärmlich gekleideten Jungen. Als er mich sah, wandte er sich einen Augenblick vom Spiele ab. „Glauben Sie — sagte er im Laufe des Gesprächs —, diese Spielplätze hier in Ost-London sind für die Nation von nicht geringerer Bedeutung als die wohl¬ gepflegten Nascngründe um die Etonschule. Aber die bloßen Vorrichtungen für unsre Nationalspiele, welche man endlich im größerm Maßstabe angelegt hat, nutzen an sich noch wenig. Trotz der schönsten Spielplätze würde keiner dieser Jungen, fixe Kerle sonst, wie Sie sehen, von selbst und ohne Anleitung zu spielen angefangen haben." Mein Freund kehrte wieder zum Spiele zurück, und als er den Ball in weitem Bogen seinem Gegner zuwarf, zeigte mir das Jauchzen der Jungen, daß sie den rechten Lehrmeister zu dem nationalsten ihrer Spiele gefunden hatten, dem Criquet, das schon im Jahre 1746 besungen wurde: 4Is.it oriansl kunt, thou riraul/ britisu Mino! (Schluß folgt.) Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. ruhe, äußerst trübe sind die Aussichten, welche ein Blick auf die deutsche Kriminalität der Gegenwart eröffnet, so trübe, daß auch der eingefleischteste Optimist mit Rücksicht auf sie an der Richtig¬ keit seiner Weltanschauung schwankend werden muß. Was hilft es, daß dank der Gesundung unsrer wirtschaftlichen Verhältnisse die Verbrechen gegen das Vermögen sich vermindern, wenn die Nvhheits- und Gewaltthätigkeitsvergehen von Jahr zu Jahr zunehmen, wenn sie, je länger je

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/482>, abgerufen am 06.05.2024.