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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gyinuasialunterricht und Fachbildung.

realen Fächer unbeachtet, und erst der Lehrplan von 1882, dessen Bestimmungen
gegenwärtig in Kraft sind, stellte den naturwissenschaftlichen Unterricht durch
zwei Stunden wöchentlich in allen Klassen wieder her. Überhaupt kann der¬
selbe als eine Rückkehr zu der Organisation der dreißiger Jahre betrachtet
werden, wobei es aber als Fortschritt bezeichnet werden darf, daß das Ver¬
ständnis der literarischen Erzeugnisse in den beiden alten Sprachen nach ihrem
Gedankeninhalt und in ihrer Kunstform als das eigentlich Bildende betont wird.
Der französische und mathematische Unterricht ist etwas begünstigt worden, und
zwar auf Kosten des griechischen, dessen Beginn von Quarta nach Tertia ver¬
legt worden ist. Den Angelpunkt des ganzen Gymnasialuntcrrichtes bildet aber
nach wie vor das Studium der klassischen Sprachen. Ähnlich wie in Preußen
hat sich auch das Schulwesen der deutscheu Mittel- und Kleinstaaten gestaltet.
Kleine Schwankungen abgerechnet, hat man überall an den alten Grundsätzen
festgehalten, welche die Begründer der philologisch-humanistischen Richtung zu
Anfang des Jahrhunderts aufgestellt haben. Überall ist das Ziel das gleiche,
und auch Lehrmittel, Methode, Schulzeit und Pensum weichen nicht wesentlich
von einander ab. Von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen,
von den Fortschritten der realen Fächer, die unser Jahrhundert zu verzeichnen
hat, ist das Gymnasium unberührt geblieben.




2.

Wenden wir uns nur der Gegenpartei zu. Hier herrscht keineswegs Über¬
einstimmung der Ansichten. Man kam, zwei Gruppen unterscheiden, die radikale,
welche das ganze Schulwesen umgeformt und als Vorbereitung zum später"
Berufsleben eingerichtet sehen möchte, und die gemäßigtere, die nur das Über¬
maß altsprachlicher Studien zu beseitigen wünscht. Unter beiden verteilt finden
sich diejenigen Eltern und Freunde der Jugend, welche nebenher noch eine Ent¬
lastung und daher eine Verringerung des gesamten Arbeitspensums befürworten.
Die Opposition gegen das herrschende Shstem wäre stärker, wenn sie nicht
uneinig wäre. Die Gemäßigten bilden Wohl die Mehrheit, aber es fehlt ihnen,
wie allen Vertretern von Kompromisse", die Thatkraft zur Geltcndmcichung
ihrer Forderungen. Sie haben kein Stichwort, das auf die Massen wirkt.
Sie wollen keine Berufsmenschen erziehen, die Schule soll nicht zur praktischen
Drcssuranstalt herabsinken, das Altertum mit seinen Heroen und Göttergestalten,
seineu unvergänglichen Kunstschöpfungen und literarischen Reichtümern hat für
sie seinen bestrickenden Zauber keineswegs verloren. Aber das Versenken in
diese Welt erscheint ihnen als ein kostspieliger Luxus, dem die gebieterischen
Forderungen des öffentlichen Lebens entgegenstehen. Dennoch möchten sie der
Jugend den Eintritt in jene Welt offen halten und nur das Maß an Zeit be-


Gyinuasialunterricht und Fachbildung.

realen Fächer unbeachtet, und erst der Lehrplan von 1882, dessen Bestimmungen
gegenwärtig in Kraft sind, stellte den naturwissenschaftlichen Unterricht durch
zwei Stunden wöchentlich in allen Klassen wieder her. Überhaupt kann der¬
selbe als eine Rückkehr zu der Organisation der dreißiger Jahre betrachtet
werden, wobei es aber als Fortschritt bezeichnet werden darf, daß das Ver¬
ständnis der literarischen Erzeugnisse in den beiden alten Sprachen nach ihrem
Gedankeninhalt und in ihrer Kunstform als das eigentlich Bildende betont wird.
Der französische und mathematische Unterricht ist etwas begünstigt worden, und
zwar auf Kosten des griechischen, dessen Beginn von Quarta nach Tertia ver¬
legt worden ist. Den Angelpunkt des ganzen Gymnasialuntcrrichtes bildet aber
nach wie vor das Studium der klassischen Sprachen. Ähnlich wie in Preußen
hat sich auch das Schulwesen der deutscheu Mittel- und Kleinstaaten gestaltet.
Kleine Schwankungen abgerechnet, hat man überall an den alten Grundsätzen
festgehalten, welche die Begründer der philologisch-humanistischen Richtung zu
Anfang des Jahrhunderts aufgestellt haben. Überall ist das Ziel das gleiche,
und auch Lehrmittel, Methode, Schulzeit und Pensum weichen nicht wesentlich
von einander ab. Von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen,
von den Fortschritten der realen Fächer, die unser Jahrhundert zu verzeichnen
hat, ist das Gymnasium unberührt geblieben.




2.

Wenden wir uns nur der Gegenpartei zu. Hier herrscht keineswegs Über¬
einstimmung der Ansichten. Man kam, zwei Gruppen unterscheiden, die radikale,
welche das ganze Schulwesen umgeformt und als Vorbereitung zum später»
Berufsleben eingerichtet sehen möchte, und die gemäßigtere, die nur das Über¬
maß altsprachlicher Studien zu beseitigen wünscht. Unter beiden verteilt finden
sich diejenigen Eltern und Freunde der Jugend, welche nebenher noch eine Ent¬
lastung und daher eine Verringerung des gesamten Arbeitspensums befürworten.
Die Opposition gegen das herrschende Shstem wäre stärker, wenn sie nicht
uneinig wäre. Die Gemäßigten bilden Wohl die Mehrheit, aber es fehlt ihnen,
wie allen Vertretern von Kompromisse«, die Thatkraft zur Geltcndmcichung
ihrer Forderungen. Sie haben kein Stichwort, das auf die Massen wirkt.
Sie wollen keine Berufsmenschen erziehen, die Schule soll nicht zur praktischen
Drcssuranstalt herabsinken, das Altertum mit seinen Heroen und Göttergestalten,
seineu unvergänglichen Kunstschöpfungen und literarischen Reichtümern hat für
sie seinen bestrickenden Zauber keineswegs verloren. Aber das Versenken in
diese Welt erscheint ihnen als ein kostspieliger Luxus, dem die gebieterischen
Forderungen des öffentlichen Lebens entgegenstehen. Dennoch möchten sie der
Jugend den Eintritt in jene Welt offen halten und nur das Maß an Zeit be-


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[0082] Gyinuasialunterricht und Fachbildung. realen Fächer unbeachtet, und erst der Lehrplan von 1882, dessen Bestimmungen gegenwärtig in Kraft sind, stellte den naturwissenschaftlichen Unterricht durch zwei Stunden wöchentlich in allen Klassen wieder her. Überhaupt kann der¬ selbe als eine Rückkehr zu der Organisation der dreißiger Jahre betrachtet werden, wobei es aber als Fortschritt bezeichnet werden darf, daß das Ver¬ ständnis der literarischen Erzeugnisse in den beiden alten Sprachen nach ihrem Gedankeninhalt und in ihrer Kunstform als das eigentlich Bildende betont wird. Der französische und mathematische Unterricht ist etwas begünstigt worden, und zwar auf Kosten des griechischen, dessen Beginn von Quarta nach Tertia ver¬ legt worden ist. Den Angelpunkt des ganzen Gymnasialuntcrrichtes bildet aber nach wie vor das Studium der klassischen Sprachen. Ähnlich wie in Preußen hat sich auch das Schulwesen der deutscheu Mittel- und Kleinstaaten gestaltet. Kleine Schwankungen abgerechnet, hat man überall an den alten Grundsätzen festgehalten, welche die Begründer der philologisch-humanistischen Richtung zu Anfang des Jahrhunderts aufgestellt haben. Überall ist das Ziel das gleiche, und auch Lehrmittel, Methode, Schulzeit und Pensum weichen nicht wesentlich von einander ab. Von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, von den Fortschritten der realen Fächer, die unser Jahrhundert zu verzeichnen hat, ist das Gymnasium unberührt geblieben. 2. Wenden wir uns nur der Gegenpartei zu. Hier herrscht keineswegs Über¬ einstimmung der Ansichten. Man kam, zwei Gruppen unterscheiden, die radikale, welche das ganze Schulwesen umgeformt und als Vorbereitung zum später» Berufsleben eingerichtet sehen möchte, und die gemäßigtere, die nur das Über¬ maß altsprachlicher Studien zu beseitigen wünscht. Unter beiden verteilt finden sich diejenigen Eltern und Freunde der Jugend, welche nebenher noch eine Ent¬ lastung und daher eine Verringerung des gesamten Arbeitspensums befürworten. Die Opposition gegen das herrschende Shstem wäre stärker, wenn sie nicht uneinig wäre. Die Gemäßigten bilden Wohl die Mehrheit, aber es fehlt ihnen, wie allen Vertretern von Kompromisse«, die Thatkraft zur Geltcndmcichung ihrer Forderungen. Sie haben kein Stichwort, das auf die Massen wirkt. Sie wollen keine Berufsmenschen erziehen, die Schule soll nicht zur praktischen Drcssuranstalt herabsinken, das Altertum mit seinen Heroen und Göttergestalten, seineu unvergänglichen Kunstschöpfungen und literarischen Reichtümern hat für sie seinen bestrickenden Zauber keineswegs verloren. Aber das Versenken in diese Welt erscheint ihnen als ein kostspieliger Luxus, dem die gebieterischen Forderungen des öffentlichen Lebens entgegenstehen. Dennoch möchten sie der Jugend den Eintritt in jene Welt offen halten und nur das Maß an Zeit be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/82>, abgerufen am 07.05.2024.