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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Therese Raquin.

o hat denn der Naturalismus auch auf der deutschen Bühne
seinen Umzug begonnen. In den ersten Tagen des Juni wurden
die Berliner durch die Anzeige überrascht, daß die Truppe des
Herrn Direktor Kurz sie mit den Schicksalen der Therese Naquin
bekannt machen wolle. Aber merkwürdig: obwohl Zola einer der
gelesensten Schriftsteller in Deutschland ist und unsre Zeitungen immer von
neuem beschäftigt, war der Erfolg des Stückes durchaus ungünstig; und was
noch merkwürdiger ist: der erste Notschrei des geängstigten deutschen Gewissens
erfolgte aus den Spalten des Berliner Tageblattes heraus, welches, aufs ge¬
schmackvollste in den Mantel sittlicher Entrüstung eingehüllt, in kurzen Posaunen-
stößen gegen diese Entweihung der Kunst Einspruch erhob. Wer wird nun dem
Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater seine Würde wiedergeben, wo bis dahin
nur die allerleichtfertigste Mustk, wo nur die allcrzotigsteu Verwicklungen und
die seichtesten Witze vom Berliner Publikum und den Kritikern des Berliner
Tageblattes mit Hochgenuß verdaut worden waren? Dieses Publikum hatte
am ersten Abend, soweit es "vornehm" war, gezischt; nur die hintern Bänke
hatten Beifall geklatscht. Als wir acht Tage darauf Therese Naquin uns an¬
zusehen versuchten, hatten sich im ganzen nur vierzig bis fünfzig Zuschauer ein¬
gefunden, die ziemlich lebhaft Beifall klatschten, was aber nach dem Ausspruche
des Berliner Tageblattes nicht mehr ins Gewicht fallen kann; mittlerweile
ist die unglückliche Person, und sehr wahrscheinlich für immer, von der Bühne
verschwunden.

"Therese Naquin" ist kein Stück, welches zur Erbauung oder auch nur zur
Erholung der Menschen geschrieben wurde. Es ist ein Wagnis, ein neuer
Versuch, die Berechtigung des Häßlichen in der Kunst nachzuweisen. Es scheint
anderseits dem Bemühen entsprungen, von der Bühne her geradezu belehrend
zu wirken, d. h. gewisse Zuschauer mit Dingen bekannt zu machen, von denen
sie nicht wissen, aber wissen sollten, und insofern ist es als ein höchst sittliches
Stück zu bezeichnen. Die Qualen, die des Verbrechers harren, werden mit
einer solchen psychologischen Genauigkeit, d. h. mit einer solchen Unerbittlichkeit
dem Lauschenden vorgeführt, daß jeder, der den Versucher in seiner Brust trägt,
nur mit Entsetzen und tief erschüttert das Theater verlassen kann. Zola ist
-eben keiner von den Schriftstellern, welche die Tugend philiströs, das Laster
reizend darstellen, die uns glauben machen möchten, daß wahre Leidenschaft
und Reinheit unvereinbar seien, daß jede rechtschaffene Frau von irgend einer
gründlich abgeliebten Courtisane an Edelmut und Herzensgüte übertroffen würde,


Therese Raquin.

o hat denn der Naturalismus auch auf der deutschen Bühne
seinen Umzug begonnen. In den ersten Tagen des Juni wurden
die Berliner durch die Anzeige überrascht, daß die Truppe des
Herrn Direktor Kurz sie mit den Schicksalen der Therese Naquin
bekannt machen wolle. Aber merkwürdig: obwohl Zola einer der
gelesensten Schriftsteller in Deutschland ist und unsre Zeitungen immer von
neuem beschäftigt, war der Erfolg des Stückes durchaus ungünstig; und was
noch merkwürdiger ist: der erste Notschrei des geängstigten deutschen Gewissens
erfolgte aus den Spalten des Berliner Tageblattes heraus, welches, aufs ge¬
schmackvollste in den Mantel sittlicher Entrüstung eingehüllt, in kurzen Posaunen-
stößen gegen diese Entweihung der Kunst Einspruch erhob. Wer wird nun dem
Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater seine Würde wiedergeben, wo bis dahin
nur die allerleichtfertigste Mustk, wo nur die allcrzotigsteu Verwicklungen und
die seichtesten Witze vom Berliner Publikum und den Kritikern des Berliner
Tageblattes mit Hochgenuß verdaut worden waren? Dieses Publikum hatte
am ersten Abend, soweit es „vornehm" war, gezischt; nur die hintern Bänke
hatten Beifall geklatscht. Als wir acht Tage darauf Therese Naquin uns an¬
zusehen versuchten, hatten sich im ganzen nur vierzig bis fünfzig Zuschauer ein¬
gefunden, die ziemlich lebhaft Beifall klatschten, was aber nach dem Ausspruche
des Berliner Tageblattes nicht mehr ins Gewicht fallen kann; mittlerweile
ist die unglückliche Person, und sehr wahrscheinlich für immer, von der Bühne
verschwunden.

„Therese Naquin" ist kein Stück, welches zur Erbauung oder auch nur zur
Erholung der Menschen geschrieben wurde. Es ist ein Wagnis, ein neuer
Versuch, die Berechtigung des Häßlichen in der Kunst nachzuweisen. Es scheint
anderseits dem Bemühen entsprungen, von der Bühne her geradezu belehrend
zu wirken, d. h. gewisse Zuschauer mit Dingen bekannt zu machen, von denen
sie nicht wissen, aber wissen sollten, und insofern ist es als ein höchst sittliches
Stück zu bezeichnen. Die Qualen, die des Verbrechers harren, werden mit
einer solchen psychologischen Genauigkeit, d. h. mit einer solchen Unerbittlichkeit
dem Lauschenden vorgeführt, daß jeder, der den Versucher in seiner Brust trägt,
nur mit Entsetzen und tief erschüttert das Theater verlassen kann. Zola ist
-eben keiner von den Schriftstellern, welche die Tugend philiströs, das Laster
reizend darstellen, die uns glauben machen möchten, daß wahre Leidenschaft
und Reinheit unvereinbar seien, daß jede rechtschaffene Frau von irgend einer
gründlich abgeliebten Courtisane an Edelmut und Herzensgüte übertroffen würde,


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[0144] Therese Raquin. o hat denn der Naturalismus auch auf der deutschen Bühne seinen Umzug begonnen. In den ersten Tagen des Juni wurden die Berliner durch die Anzeige überrascht, daß die Truppe des Herrn Direktor Kurz sie mit den Schicksalen der Therese Naquin bekannt machen wolle. Aber merkwürdig: obwohl Zola einer der gelesensten Schriftsteller in Deutschland ist und unsre Zeitungen immer von neuem beschäftigt, war der Erfolg des Stückes durchaus ungünstig; und was noch merkwürdiger ist: der erste Notschrei des geängstigten deutschen Gewissens erfolgte aus den Spalten des Berliner Tageblattes heraus, welches, aufs ge¬ schmackvollste in den Mantel sittlicher Entrüstung eingehüllt, in kurzen Posaunen- stößen gegen diese Entweihung der Kunst Einspruch erhob. Wer wird nun dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater seine Würde wiedergeben, wo bis dahin nur die allerleichtfertigste Mustk, wo nur die allcrzotigsteu Verwicklungen und die seichtesten Witze vom Berliner Publikum und den Kritikern des Berliner Tageblattes mit Hochgenuß verdaut worden waren? Dieses Publikum hatte am ersten Abend, soweit es „vornehm" war, gezischt; nur die hintern Bänke hatten Beifall geklatscht. Als wir acht Tage darauf Therese Naquin uns an¬ zusehen versuchten, hatten sich im ganzen nur vierzig bis fünfzig Zuschauer ein¬ gefunden, die ziemlich lebhaft Beifall klatschten, was aber nach dem Ausspruche des Berliner Tageblattes nicht mehr ins Gewicht fallen kann; mittlerweile ist die unglückliche Person, und sehr wahrscheinlich für immer, von der Bühne verschwunden. „Therese Naquin" ist kein Stück, welches zur Erbauung oder auch nur zur Erholung der Menschen geschrieben wurde. Es ist ein Wagnis, ein neuer Versuch, die Berechtigung des Häßlichen in der Kunst nachzuweisen. Es scheint anderseits dem Bemühen entsprungen, von der Bühne her geradezu belehrend zu wirken, d. h. gewisse Zuschauer mit Dingen bekannt zu machen, von denen sie nicht wissen, aber wissen sollten, und insofern ist es als ein höchst sittliches Stück zu bezeichnen. Die Qualen, die des Verbrechers harren, werden mit einer solchen psychologischen Genauigkeit, d. h. mit einer solchen Unerbittlichkeit dem Lauschenden vorgeführt, daß jeder, der den Versucher in seiner Brust trägt, nur mit Entsetzen und tief erschüttert das Theater verlassen kann. Zola ist -eben keiner von den Schriftstellern, welche die Tugend philiströs, das Laster reizend darstellen, die uns glauben machen möchten, daß wahre Leidenschaft und Reinheit unvereinbar seien, daß jede rechtschaffene Frau von irgend einer gründlich abgeliebten Courtisane an Edelmut und Herzensgüte übertroffen würde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/144>, abgerufen am 28.04.2024.