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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

jenen unklaren, unsteten und unzuverlässigen Charakter gegeben und bis heute
erhalten hat, der das Gegenteil von Bünduisfähigkeit ist. Ein zweiter Artikel
soll das durch Blicke auf die auswärtige Politik Frankreichs weiter verfolgen.




Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen"
8. Etwas vom Leben.

eben oder die Frage, was es sei oder wie es sein könne und
solle, hat für unsere Zeit und Zukunft eine ganz besondre Be¬
deutung. Wer bei gesundem Leben ist, braucht freilich die Frage
nicht und denkt auch gar nicht daran. Aber das ist es eben,
wir haben im Einzelnen und Ganzen das rechte Leben nicht mehr
oder noch nicht, so weit es nach den gegebenen Bedingungen möglich ist. Ja
wir sind wohl auf die Schneide einer Entscheidung gestellt, die wesentlich in
unsere Hand gegeben ist und unser Leben entweder abwärts führen soll oder
aufwärts und damit auf den rechten Weg, deun alles rechte Leben ist zugleich
aufsteigende Bewegung. Auch im Auslande, das uns besonders seit 1870 so
sorglich beobachtet, sieht nun uns wechselnd von beiden Seiten, sogar scharf
zugespitzt. Dn giebt es Freunde, die in uns das Volk der Zukunft erblicken,
wie das schon vorher in England Cnrlyle that, sogar in Frankreich einmal Victor
Hugo, wie lange vorher schon die Stael-Holstein, die uns also in einem auf¬
steigenden Leben sehen, so alt wir sind als Volk. Dagegen steht eine andre
Meinung, wir seien eben so alt, daß wir im Altern, unser Leben also im Ein¬
gehen begriffen sei, unter der zernagenden Gewalt der Übercnltnr. So denken
die Russen aus der Schule der Aksakow, Katkow u. s. w., mit der Kraft eiuer
so zu sagen geschichtsphilosophisch begründeten Überzeugung. Darnach wäre uns
Kur Wahl gestellt ein neues junges großes Leben oder ein Ausleben, Absterben.
Was ist das Wahre daran? Wie steht es mit unserm Leben? Was ist das
rechte Leben? Was ist Leben überhaupt? Das ist in der That die Lebens¬
lage für uns, von der alle andern Fragen abhängen oder in die sie einlenken.

Scheu wir zunächst nach der verneinenden Seite. Leben ist Bewegung,
Selbstbewegung, mit Freude an der Bewegung selber sowohl als mit Glauben
das Ziel, dem doch jede Bewegung zustrebt. Da das Leben im Grunde
eines ist, das durch unser Wesen geht im Einzelnen wie im Ganzen, kann man
am Äußerlichen anfangen, darnach zu scheu. Wenn man min auf Bällen sieht,


Grenzboten IV. 1887. L3
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

jenen unklaren, unsteten und unzuverlässigen Charakter gegeben und bis heute
erhalten hat, der das Gegenteil von Bünduisfähigkeit ist. Ein zweiter Artikel
soll das durch Blicke auf die auswärtige Politik Frankreichs weiter verfolgen.




Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen»
8. Etwas vom Leben.

eben oder die Frage, was es sei oder wie es sein könne und
solle, hat für unsere Zeit und Zukunft eine ganz besondre Be¬
deutung. Wer bei gesundem Leben ist, braucht freilich die Frage
nicht und denkt auch gar nicht daran. Aber das ist es eben,
wir haben im Einzelnen und Ganzen das rechte Leben nicht mehr
oder noch nicht, so weit es nach den gegebenen Bedingungen möglich ist. Ja
wir sind wohl auf die Schneide einer Entscheidung gestellt, die wesentlich in
unsere Hand gegeben ist und unser Leben entweder abwärts führen soll oder
aufwärts und damit auf den rechten Weg, deun alles rechte Leben ist zugleich
aufsteigende Bewegung. Auch im Auslande, das uns besonders seit 1870 so
sorglich beobachtet, sieht nun uns wechselnd von beiden Seiten, sogar scharf
zugespitzt. Dn giebt es Freunde, die in uns das Volk der Zukunft erblicken,
wie das schon vorher in England Cnrlyle that, sogar in Frankreich einmal Victor
Hugo, wie lange vorher schon die Stael-Holstein, die uns also in einem auf¬
steigenden Leben sehen, so alt wir sind als Volk. Dagegen steht eine andre
Meinung, wir seien eben so alt, daß wir im Altern, unser Leben also im Ein¬
gehen begriffen sei, unter der zernagenden Gewalt der Übercnltnr. So denken
die Russen aus der Schule der Aksakow, Katkow u. s. w., mit der Kraft eiuer
so zu sagen geschichtsphilosophisch begründeten Überzeugung. Darnach wäre uns
Kur Wahl gestellt ein neues junges großes Leben oder ein Ausleben, Absterben.
Was ist das Wahre daran? Wie steht es mit unserm Leben? Was ist das
rechte Leben? Was ist Leben überhaupt? Das ist in der That die Lebens¬
lage für uns, von der alle andern Fragen abhängen oder in die sie einlenken.

Scheu wir zunächst nach der verneinenden Seite. Leben ist Bewegung,
Selbstbewegung, mit Freude an der Bewegung selber sowohl als mit Glauben
das Ziel, dem doch jede Bewegung zustrebt. Da das Leben im Grunde
eines ist, das durch unser Wesen geht im Einzelnen wie im Ganzen, kann man
am Äußerlichen anfangen, darnach zu scheu. Wenn man min auf Bällen sieht,


Grenzboten IV. 1887. L3
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[0265] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. jenen unklaren, unsteten und unzuverlässigen Charakter gegeben und bis heute erhalten hat, der das Gegenteil von Bünduisfähigkeit ist. Ein zweiter Artikel soll das durch Blicke auf die auswärtige Politik Frankreichs weiter verfolgen. Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen» 8. Etwas vom Leben. eben oder die Frage, was es sei oder wie es sein könne und solle, hat für unsere Zeit und Zukunft eine ganz besondre Be¬ deutung. Wer bei gesundem Leben ist, braucht freilich die Frage nicht und denkt auch gar nicht daran. Aber das ist es eben, wir haben im Einzelnen und Ganzen das rechte Leben nicht mehr oder noch nicht, so weit es nach den gegebenen Bedingungen möglich ist. Ja wir sind wohl auf die Schneide einer Entscheidung gestellt, die wesentlich in unsere Hand gegeben ist und unser Leben entweder abwärts führen soll oder aufwärts und damit auf den rechten Weg, deun alles rechte Leben ist zugleich aufsteigende Bewegung. Auch im Auslande, das uns besonders seit 1870 so sorglich beobachtet, sieht nun uns wechselnd von beiden Seiten, sogar scharf zugespitzt. Dn giebt es Freunde, die in uns das Volk der Zukunft erblicken, wie das schon vorher in England Cnrlyle that, sogar in Frankreich einmal Victor Hugo, wie lange vorher schon die Stael-Holstein, die uns also in einem auf¬ steigenden Leben sehen, so alt wir sind als Volk. Dagegen steht eine andre Meinung, wir seien eben so alt, daß wir im Altern, unser Leben also im Ein¬ gehen begriffen sei, unter der zernagenden Gewalt der Übercnltnr. So denken die Russen aus der Schule der Aksakow, Katkow u. s. w., mit der Kraft eiuer so zu sagen geschichtsphilosophisch begründeten Überzeugung. Darnach wäre uns Kur Wahl gestellt ein neues junges großes Leben oder ein Ausleben, Absterben. Was ist das Wahre daran? Wie steht es mit unserm Leben? Was ist das rechte Leben? Was ist Leben überhaupt? Das ist in der That die Lebens¬ lage für uns, von der alle andern Fragen abhängen oder in die sie einlenken. Scheu wir zunächst nach der verneinenden Seite. Leben ist Bewegung, Selbstbewegung, mit Freude an der Bewegung selber sowohl als mit Glauben das Ziel, dem doch jede Bewegung zustrebt. Da das Leben im Grunde eines ist, das durch unser Wesen geht im Einzelnen wie im Ganzen, kann man am Äußerlichen anfangen, darnach zu scheu. Wenn man min auf Bällen sieht, Grenzboten IV. 1887. L3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/265>, abgerufen am 01.05.2024.