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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

sie mußte weinen, aber es waren sanfte, erquickende Thränen, denn es war ihr,
als läge in seinem Blicke etwas so Mildes, Gutes, wie sie es lange nicht gesehen
hatte. Und das mochte wohl der Fall sein, denn der Gevatter Tod hatte seine
Sache gut gemacht und konnte dort oben mit der Überzeugung stehen, daß
er das Ganze aufs beste geordnet und dafür gesorgt hatte, daß sie alle drei
zusammenblieben. Nun konnte er in Ruhe und Frieden über ein Patengeschenk
für den Kleinen nachdenken, und das war gut. Er hatte ja früher schou einmal
Gevatter gestanden und ein Patengeschenk gemacht -- davon haben wir wohl
alle gehört --, aber damit hatte er kein Glück gehabt, das Geschenk hatte
leinen Segen gestiftet. Das dürfte nicht wieder geschehen, dazu hielt er zu
viel von dem kleinen Knaben, der mit den rosigen Wangen vor ihm in der
Wiege lag und so süß und unbekümmert unter seinen großen, wachsamen
Augen schlief.

Darum bedürfte er einer Bedenkzeit für sein Patengeschenk.




Zweites Aapitel.
Geheimnis.

Wer Tippe war? El, natürlich der kleine Knabe! Es ist freilich wahr,
er hieß eigentlich Theodor, aber sobald er groß genug geworden war, um
selber eine Stimme zu haben, nannte er sich Tippe, und dieser Name war
auch viel leichter auszusprechen als Theodor.

Er wurde also Tippe genannt, und Tippe hatte auch sein Geheimnis,
freilich nicht von vornherein.

In den Zimmern des alten Jens setzte er unverzagt das fort, was er
im Schulhause begonnen hatte, und weder Kummer noch Sorge berührten ihn.
Seine Nahrung blieb dieselbe, die gab ihm seine Mutter, und an ihrer Brust
ruhte er so sicher und geborgen wie vorher. Er schlief fast beständig, und
wurde mit jedem Tage rosiger und runder, länger und dicker, bis er schließlich
anfing, mehr zu wachen und allmählich alles aß, zuweilen mich das, was er
eigentlich nicht hätte essen sollen. Er wurde aus der Wiege auf den Schoß
der Mutter und vom Schoße der Mutter in die Wiege getragen, bis es ihn
eines Tages däuchte, daß er jetzt den Weg genügend kenne. Da bekam er denn
Lust, ihn einmal kriechend zurückzulegen. Und als er erst daran Geschmack ge¬
funden hatte, blieb er ruhig dabei, bis er laufen konnte.

Jeden Tag kam der Totengräber Jens herein, tun sich nach ihm umzusehen.
Dann stellte er sich vor ihn und drehte den Zeigefinger feierlich im Kreise herum.
Und wenn Tippe so gnädig gewesen war, ein Lächeln aufzustecken, so trippelte
der Alte vergnügt von dannen. Es war eine Fingersprache, welche die beiden
mit einander redeten, und das machte ihnen beiden Vergnügen, bis Tippe eines


Gevatter Tod.

sie mußte weinen, aber es waren sanfte, erquickende Thränen, denn es war ihr,
als läge in seinem Blicke etwas so Mildes, Gutes, wie sie es lange nicht gesehen
hatte. Und das mochte wohl der Fall sein, denn der Gevatter Tod hatte seine
Sache gut gemacht und konnte dort oben mit der Überzeugung stehen, daß
er das Ganze aufs beste geordnet und dafür gesorgt hatte, daß sie alle drei
zusammenblieben. Nun konnte er in Ruhe und Frieden über ein Patengeschenk
für den Kleinen nachdenken, und das war gut. Er hatte ja früher schou einmal
Gevatter gestanden und ein Patengeschenk gemacht — davon haben wir wohl
alle gehört —, aber damit hatte er kein Glück gehabt, das Geschenk hatte
leinen Segen gestiftet. Das dürfte nicht wieder geschehen, dazu hielt er zu
viel von dem kleinen Knaben, der mit den rosigen Wangen vor ihm in der
Wiege lag und so süß und unbekümmert unter seinen großen, wachsamen
Augen schlief.

Darum bedürfte er einer Bedenkzeit für sein Patengeschenk.




Zweites Aapitel.
Geheimnis.

Wer Tippe war? El, natürlich der kleine Knabe! Es ist freilich wahr,
er hieß eigentlich Theodor, aber sobald er groß genug geworden war, um
selber eine Stimme zu haben, nannte er sich Tippe, und dieser Name war
auch viel leichter auszusprechen als Theodor.

Er wurde also Tippe genannt, und Tippe hatte auch sein Geheimnis,
freilich nicht von vornherein.

In den Zimmern des alten Jens setzte er unverzagt das fort, was er
im Schulhause begonnen hatte, und weder Kummer noch Sorge berührten ihn.
Seine Nahrung blieb dieselbe, die gab ihm seine Mutter, und an ihrer Brust
ruhte er so sicher und geborgen wie vorher. Er schlief fast beständig, und
wurde mit jedem Tage rosiger und runder, länger und dicker, bis er schließlich
anfing, mehr zu wachen und allmählich alles aß, zuweilen mich das, was er
eigentlich nicht hätte essen sollen. Er wurde aus der Wiege auf den Schoß
der Mutter und vom Schoße der Mutter in die Wiege getragen, bis es ihn
eines Tages däuchte, daß er jetzt den Weg genügend kenne. Da bekam er denn
Lust, ihn einmal kriechend zurückzulegen. Und als er erst daran Geschmack ge¬
funden hatte, blieb er ruhig dabei, bis er laufen konnte.

Jeden Tag kam der Totengräber Jens herein, tun sich nach ihm umzusehen.
Dann stellte er sich vor ihn und drehte den Zeigefinger feierlich im Kreise herum.
Und wenn Tippe so gnädig gewesen war, ein Lächeln aufzustecken, so trippelte
der Alte vergnügt von dannen. Es war eine Fingersprache, welche die beiden
mit einander redeten, und das machte ihnen beiden Vergnügen, bis Tippe eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/462>, abgerufen am 01.05.2024.