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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Kissen und schluchzte und weinte bitterlich, bis er fühlte, daß eine zitternde
Hand über seinen Kopf dahinglitt.

Alter Jens! sagte er, warum hat sie auch ihre Augen zugemacht, ehe ich
kam! Nun hat der Tod sie geholt, und sie kann nicht mehr hören, was ich sage.

Der alte Jens antwortete nicht und wußte keinen bessern Trost, als seine alte,
zitternde Hand noch einmal über den Lockenkopf des kleinen Tippe gleiten zu lassen.

Geh nicht fort von mir, alter Jens! fuhr Tippe mit klagender Stimme
fort. Bleibe immer bei mir und mache die Augen nicht zu! Das darfst du
nicht thun, alter Jens, denn nun bin ich ja dein Tippe!

Es klang, als kämpfe die Stimme des alten Jens mit Thränen. Endlich
sagte er: Ich bleibe bei dir, Tippe, darauf kannst du dich verlassen! Aber seine
Stimme zitterte noch mehr als feine Hände, deswegen war aber sein Versprechen
nicht minder zuverlässig.

Tippe schlief ein und wachte wieder auf, schlief abermals ein und erwachte von
neuem, und so ging es die ganze Nacht hindurch, denn er träumte fortwährend,
daß der alte Jens sich ein tiefes, tiefes Grab grübe und darin verschwände.

Sag einmal Piep, alter Jens! rief er und fuhr in wilder Verzweiflung
auf. Und der alte Jens war da, so sicher wie der Tod.

Piep, Piep, kleiner Tippe! sagte er mit seiner ernsten Stimme und legte
seine Hand auf Tippes heiße Stirn, und dann war Tippe beruhigt. Mit
einem tiefen Seufzer legte er sich wieder hin und klagte: Warum hat sie nur
ihre Augen zugemacht?

Ja, warum hat sie ihre Augen zugemacht? sagten auch die Leute im
Dorfe. Sie wollte keine Vernunft annehmen, sondern schaute immer nach dem
Tode hin. Was das Leben ist, das wissen wir, und daran soll man sich
halten, von dem andern kann nichts Gutes kommen. Wenn der Knabe so fort¬
fährt, wie er angefangen hat, so geht er anch bald denselben Weg.

Die Mutter aber hörte weder die vernünftigen Reden der Leute, noch die
bittere Klage ihres Kindes. Sie schlief den tiefen, geheimnisvollen Schlaf des
Todes, und das Lächeln auf ihrem Antlitz verkündete, daß sie in sein Ge¬
heimnis eingedrungen sei. Wer aber sollte es jetzt dem kleinen Tippe und dem
alten Jens erklären, und allen denen, für die es ein Segen gewesen wäre, es
zu kennen? Die beiden, die es gekannt hatten, weilten nicht mehr auf dieser Erde!

Und was wurde aus dem Patengeschenk des Gevatter Tod? Das hatte
Tippe bereits erhalten, er wußte es nur noch nicht.




Drittes Aapitel.
Mie VipM Geheimnis und das des Kodes sinsndrn bsusMiien.

Der Sommer hatte sein Abschiedsfest gehalten, und der Herbst war ge¬
kommen. Alles, was sich im Sommersonnenschein gefreut hatte, mußte sich


Gevatter Tod.

Kissen und schluchzte und weinte bitterlich, bis er fühlte, daß eine zitternde
Hand über seinen Kopf dahinglitt.

Alter Jens! sagte er, warum hat sie auch ihre Augen zugemacht, ehe ich
kam! Nun hat der Tod sie geholt, und sie kann nicht mehr hören, was ich sage.

Der alte Jens antwortete nicht und wußte keinen bessern Trost, als seine alte,
zitternde Hand noch einmal über den Lockenkopf des kleinen Tippe gleiten zu lassen.

Geh nicht fort von mir, alter Jens! fuhr Tippe mit klagender Stimme
fort. Bleibe immer bei mir und mache die Augen nicht zu! Das darfst du
nicht thun, alter Jens, denn nun bin ich ja dein Tippe!

Es klang, als kämpfe die Stimme des alten Jens mit Thränen. Endlich
sagte er: Ich bleibe bei dir, Tippe, darauf kannst du dich verlassen! Aber seine
Stimme zitterte noch mehr als feine Hände, deswegen war aber sein Versprechen
nicht minder zuverlässig.

Tippe schlief ein und wachte wieder auf, schlief abermals ein und erwachte von
neuem, und so ging es die ganze Nacht hindurch, denn er träumte fortwährend,
daß der alte Jens sich ein tiefes, tiefes Grab grübe und darin verschwände.

Sag einmal Piep, alter Jens! rief er und fuhr in wilder Verzweiflung
auf. Und der alte Jens war da, so sicher wie der Tod.

Piep, Piep, kleiner Tippe! sagte er mit seiner ernsten Stimme und legte
seine Hand auf Tippes heiße Stirn, und dann war Tippe beruhigt. Mit
einem tiefen Seufzer legte er sich wieder hin und klagte: Warum hat sie nur
ihre Augen zugemacht?

Ja, warum hat sie ihre Augen zugemacht? sagten auch die Leute im
Dorfe. Sie wollte keine Vernunft annehmen, sondern schaute immer nach dem
Tode hin. Was das Leben ist, das wissen wir, und daran soll man sich
halten, von dem andern kann nichts Gutes kommen. Wenn der Knabe so fort¬
fährt, wie er angefangen hat, so geht er anch bald denselben Weg.

Die Mutter aber hörte weder die vernünftigen Reden der Leute, noch die
bittere Klage ihres Kindes. Sie schlief den tiefen, geheimnisvollen Schlaf des
Todes, und das Lächeln auf ihrem Antlitz verkündete, daß sie in sein Ge¬
heimnis eingedrungen sei. Wer aber sollte es jetzt dem kleinen Tippe und dem
alten Jens erklären, und allen denen, für die es ein Segen gewesen wäre, es
zu kennen? Die beiden, die es gekannt hatten, weilten nicht mehr auf dieser Erde!

Und was wurde aus dem Patengeschenk des Gevatter Tod? Das hatte
Tippe bereits erhalten, er wußte es nur noch nicht.




Drittes Aapitel.
Mie VipM Geheimnis und das des Kodes sinsndrn bsusMiien.

Der Sommer hatte sein Abschiedsfest gehalten, und der Herbst war ge¬
kommen. Alles, was sich im Sommersonnenschein gefreut hatte, mußte sich


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[0560] Gevatter Tod. Kissen und schluchzte und weinte bitterlich, bis er fühlte, daß eine zitternde Hand über seinen Kopf dahinglitt. Alter Jens! sagte er, warum hat sie auch ihre Augen zugemacht, ehe ich kam! Nun hat der Tod sie geholt, und sie kann nicht mehr hören, was ich sage. Der alte Jens antwortete nicht und wußte keinen bessern Trost, als seine alte, zitternde Hand noch einmal über den Lockenkopf des kleinen Tippe gleiten zu lassen. Geh nicht fort von mir, alter Jens! fuhr Tippe mit klagender Stimme fort. Bleibe immer bei mir und mache die Augen nicht zu! Das darfst du nicht thun, alter Jens, denn nun bin ich ja dein Tippe! Es klang, als kämpfe die Stimme des alten Jens mit Thränen. Endlich sagte er: Ich bleibe bei dir, Tippe, darauf kannst du dich verlassen! Aber seine Stimme zitterte noch mehr als feine Hände, deswegen war aber sein Versprechen nicht minder zuverlässig. Tippe schlief ein und wachte wieder auf, schlief abermals ein und erwachte von neuem, und so ging es die ganze Nacht hindurch, denn er träumte fortwährend, daß der alte Jens sich ein tiefes, tiefes Grab grübe und darin verschwände. Sag einmal Piep, alter Jens! rief er und fuhr in wilder Verzweiflung auf. Und der alte Jens war da, so sicher wie der Tod. Piep, Piep, kleiner Tippe! sagte er mit seiner ernsten Stimme und legte seine Hand auf Tippes heiße Stirn, und dann war Tippe beruhigt. Mit einem tiefen Seufzer legte er sich wieder hin und klagte: Warum hat sie nur ihre Augen zugemacht? Ja, warum hat sie ihre Augen zugemacht? sagten auch die Leute im Dorfe. Sie wollte keine Vernunft annehmen, sondern schaute immer nach dem Tode hin. Was das Leben ist, das wissen wir, und daran soll man sich halten, von dem andern kann nichts Gutes kommen. Wenn der Knabe so fort¬ fährt, wie er angefangen hat, so geht er anch bald denselben Weg. Die Mutter aber hörte weder die vernünftigen Reden der Leute, noch die bittere Klage ihres Kindes. Sie schlief den tiefen, geheimnisvollen Schlaf des Todes, und das Lächeln auf ihrem Antlitz verkündete, daß sie in sein Ge¬ heimnis eingedrungen sei. Wer aber sollte es jetzt dem kleinen Tippe und dem alten Jens erklären, und allen denen, für die es ein Segen gewesen wäre, es zu kennen? Die beiden, die es gekannt hatten, weilten nicht mehr auf dieser Erde! Und was wurde aus dem Patengeschenk des Gevatter Tod? Das hatte Tippe bereits erhalten, er wußte es nur noch nicht. Drittes Aapitel. Mie VipM Geheimnis und das des Kodes sinsndrn bsusMiien. Der Sommer hatte sein Abschiedsfest gehalten, und der Herbst war ge¬ kommen. Alles, was sich im Sommersonnenschein gefreut hatte, mußte sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/560>, abgerufen am 01.05.2024.