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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Aus der Htrafrechtspstege.

us der letzten Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen
den Mißbrauch geistiger Getränke zu Darmstadt äußerte Miquel,
seit langer Zeit habe er die Beobachtung gemacht, daß die
deutschen Gerichte bei Ausübung der Strafrechtspflege zu sehr
unter dem Einflüsse der einseitigen privatrechtlichen Bildung und
Schulung stünden, als daß sie eine Strafe zu verhängen imstande wären, die
allen in Betracht kommenden staatlichen und gesellschaftlichen Interessen Rechnung
trägt. Der Richter fasse seine Aufgabe zu einseitig vom Standpunkte des Ein¬
zelnen auf, er berücksichtige aber viel zu wenig, daß er ein Werkzeug der
Interessen der Gesamtheit bilde.

Nichts kann zutreffender sein als dieser Ausspruch des hervorragenden
Abgeordneten und Politikers, und es ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit, daß
die Klagen ob der verhängnisvollen Wirkungen der einseitigen privatrechtlichen
Ausbildung der deutschen Juristen nicht nur von den Vertretern der Theorie
erhoben werden, sondern auch aus dem Munde eines Mannes ertönen, der seit
einem halben Menschenalter an der Gesetzgebung des deutschen Reiches und
Preußen einen so großen Anteil genommen hat, aus dem Munde eines Mannes,
der durch seine Wirksamkeit in den verschiednen gesetzgebenden Versammlungen,
in der Stadt-, Kreis- und Provinzialverwaltung der Gefahr entrückt ist, als
ein unpraktischer "Doktrinär" bezeichnet oder mit einem andern jener Schmeichel¬
worte beehrt zu werden, die man den Professoren so gern an den Kopf wirft.
Die Nachteile der mit größter Einseitigkeit betriebenen Ausbildung der Juristen
in den privatrechtlichen Wissenszweigen, die Schäden der Vernachlässigung des
öffentlichen Rechtes und der Staatswissenschaften bestehen nicht etwa in der
Einbildung, sondern in Wirklichkeit, sie zeigen sich deutlich auf den verschiednen


Grenzboten I. 18S3. 28


Aus der Htrafrechtspstege.

us der letzten Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen
den Mißbrauch geistiger Getränke zu Darmstadt äußerte Miquel,
seit langer Zeit habe er die Beobachtung gemacht, daß die
deutschen Gerichte bei Ausübung der Strafrechtspflege zu sehr
unter dem Einflüsse der einseitigen privatrechtlichen Bildung und
Schulung stünden, als daß sie eine Strafe zu verhängen imstande wären, die
allen in Betracht kommenden staatlichen und gesellschaftlichen Interessen Rechnung
trägt. Der Richter fasse seine Aufgabe zu einseitig vom Standpunkte des Ein¬
zelnen auf, er berücksichtige aber viel zu wenig, daß er ein Werkzeug der
Interessen der Gesamtheit bilde.

Nichts kann zutreffender sein als dieser Ausspruch des hervorragenden
Abgeordneten und Politikers, und es ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit, daß
die Klagen ob der verhängnisvollen Wirkungen der einseitigen privatrechtlichen
Ausbildung der deutschen Juristen nicht nur von den Vertretern der Theorie
erhoben werden, sondern auch aus dem Munde eines Mannes ertönen, der seit
einem halben Menschenalter an der Gesetzgebung des deutschen Reiches und
Preußen einen so großen Anteil genommen hat, aus dem Munde eines Mannes,
der durch seine Wirksamkeit in den verschiednen gesetzgebenden Versammlungen,
in der Stadt-, Kreis- und Provinzialverwaltung der Gefahr entrückt ist, als
ein unpraktischer „Doktrinär" bezeichnet oder mit einem andern jener Schmeichel¬
worte beehrt zu werden, die man den Professoren so gern an den Kopf wirft.
Die Nachteile der mit größter Einseitigkeit betriebenen Ausbildung der Juristen
in den privatrechtlichen Wissenszweigen, die Schäden der Vernachlässigung des
öffentlichen Rechtes und der Staatswissenschaften bestehen nicht etwa in der
Einbildung, sondern in Wirklichkeit, sie zeigen sich deutlich auf den verschiednen


Grenzboten I. 18S3. 28
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[0225] [Abbildung] Aus der Htrafrechtspstege. us der letzten Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke zu Darmstadt äußerte Miquel, seit langer Zeit habe er die Beobachtung gemacht, daß die deutschen Gerichte bei Ausübung der Strafrechtspflege zu sehr unter dem Einflüsse der einseitigen privatrechtlichen Bildung und Schulung stünden, als daß sie eine Strafe zu verhängen imstande wären, die allen in Betracht kommenden staatlichen und gesellschaftlichen Interessen Rechnung trägt. Der Richter fasse seine Aufgabe zu einseitig vom Standpunkte des Ein¬ zelnen auf, er berücksichtige aber viel zu wenig, daß er ein Werkzeug der Interessen der Gesamtheit bilde. Nichts kann zutreffender sein als dieser Ausspruch des hervorragenden Abgeordneten und Politikers, und es ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit, daß die Klagen ob der verhängnisvollen Wirkungen der einseitigen privatrechtlichen Ausbildung der deutschen Juristen nicht nur von den Vertretern der Theorie erhoben werden, sondern auch aus dem Munde eines Mannes ertönen, der seit einem halben Menschenalter an der Gesetzgebung des deutschen Reiches und Preußen einen so großen Anteil genommen hat, aus dem Munde eines Mannes, der durch seine Wirksamkeit in den verschiednen gesetzgebenden Versammlungen, in der Stadt-, Kreis- und Provinzialverwaltung der Gefahr entrückt ist, als ein unpraktischer „Doktrinär" bezeichnet oder mit einem andern jener Schmeichel¬ worte beehrt zu werden, die man den Professoren so gern an den Kopf wirft. Die Nachteile der mit größter Einseitigkeit betriebenen Ausbildung der Juristen in den privatrechtlichen Wissenszweigen, die Schäden der Vernachlässigung des öffentlichen Rechtes und der Staatswissenschaften bestehen nicht etwa in der Einbildung, sondern in Wirklichkeit, sie zeigen sich deutlich auf den verschiednen Grenzboten I. 18S3. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/225>, abgerufen am 01.05.2024.