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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Dnbar-Sage und der keilschriftliche Sintflutbericht.

Wir dürfen demnach sagen, daß der biblische Flutbericht ursprünglich ein
und derselben Quelle mit dem babylonischen Mythus ist, dann in judaistisch
tendenziöser Weise bearbeitet und nochmals durch babylonische Sagen beeinflußt
worden ist; daß wir mithin im Kcilschrifttexte eine ursprünglichere, einfachere,
weniger übertriebene Gestalt der Flutsage haben, daß uns aber gleichwohl der
biblische Bericht, freigeschält von jndaistischeu Ausschmückungen, als wertvolle
Ergänzung zu dem Thema der babylonischen Flutgeschichte gelten darf.




4.

Den EinWurf, daß die biblische Flutgeschichte überhaupt keine Sage sei,
sondern, wie sie uns überliefert ist, dem Bereich der Thatsachen angehöre, daß
also wirklich eine geschichtlich beglaubigte allgemeine Erdüberslutung stattgefunden
habe, wird heute selbst der buchstabeugläubigste Theologe uicht mehr erheben.
Verliert sie doch ihren Wert als speziell jüdische Heilsschrift schon durch den
Nachweis, daß sie lange, bevor man an einen Jahvisten oder Elohisten dachte,
von dem Keilschriftvolke schriftlich ausgezeichnet und noch länger vorher bildlich
dargestellt worden ist, und zwar unter Hinzufügung desselben ethischen Moments,
wonach die Flut als Strafe für die Sündhaftigkeit angesehen ward. Und
ist doch überhaupt der Nimbus, mit dem das alte Judentum der Erzväter um¬
hüllt war, durch die Sprache uralter Denkmäler beseitigt; was an tief religiöser
Anschauung und Frömmigkeit das Judentum als sein eigenstes ausgesuchtes
Besitztum in Anspruch nahm, haben die Keilschrifttexte der alten sumerischen
Bußpsalmen als Gemeingut der Semiten überhaupt aufgeklärt. Es wäre thöricht,
sich den untrüglichen Errungenschaften der Altertumswissenschaft verschließen zu
wollen, lediglich um einem einzigen Volke die Glorie zusprechen zu können, welche
einer ganzen Völkergemeinschaft, dem Semitcntum, eigentümlich war. Das wesent¬
liche Verdienst des Judentums, den Monotheismus in das Semitcntum ver¬
pflanzt und ihn -- wenigstens zeitweise -- mit echt semitischer Frömmigkeit ge¬
pflegt zu haben, wird dem Volke Israel doch bleiben, und keine Wissenschaft
wird es ihm zu nehmen wagen.

Aber die Wissenschaft verlangt, daß Wahrheit und Dichtung auf jedem
Gebiet ihrer Forschung auseinander gehalten werde, auch in den Geschichten des
Alten Testaments. Und umsomehr da, wo auch die Vernunft die Dichtung
sofort als solche kennzeichnet. Um sämtliche Arten belebter Wesen im Falle
einer allgemeinen Erdüberflutung am Leben zu erhalten, hätte Noah 6266 Arten
Vierfüßler, 658 Arten Vögel, 642 Arten Reptilien und 550 000 Arten Insekten
in seine Arche aufnehmen müssen, von jeder Sorte ein Paar, von den reinen Tieren
je sieben Paare. Dazu das Futter für die lange Zeit! Wie hätte selbst ein
Schiff wie Nocchs Arche solche Ladung fassen können? Und woher in der kurzen


Die Dnbar-Sage und der keilschriftliche Sintflutbericht.

Wir dürfen demnach sagen, daß der biblische Flutbericht ursprünglich ein
und derselben Quelle mit dem babylonischen Mythus ist, dann in judaistisch
tendenziöser Weise bearbeitet und nochmals durch babylonische Sagen beeinflußt
worden ist; daß wir mithin im Kcilschrifttexte eine ursprünglichere, einfachere,
weniger übertriebene Gestalt der Flutsage haben, daß uns aber gleichwohl der
biblische Bericht, freigeschält von jndaistischeu Ausschmückungen, als wertvolle
Ergänzung zu dem Thema der babylonischen Flutgeschichte gelten darf.




4.

Den EinWurf, daß die biblische Flutgeschichte überhaupt keine Sage sei,
sondern, wie sie uns überliefert ist, dem Bereich der Thatsachen angehöre, daß
also wirklich eine geschichtlich beglaubigte allgemeine Erdüberslutung stattgefunden
habe, wird heute selbst der buchstabeugläubigste Theologe uicht mehr erheben.
Verliert sie doch ihren Wert als speziell jüdische Heilsschrift schon durch den
Nachweis, daß sie lange, bevor man an einen Jahvisten oder Elohisten dachte,
von dem Keilschriftvolke schriftlich ausgezeichnet und noch länger vorher bildlich
dargestellt worden ist, und zwar unter Hinzufügung desselben ethischen Moments,
wonach die Flut als Strafe für die Sündhaftigkeit angesehen ward. Und
ist doch überhaupt der Nimbus, mit dem das alte Judentum der Erzväter um¬
hüllt war, durch die Sprache uralter Denkmäler beseitigt; was an tief religiöser
Anschauung und Frömmigkeit das Judentum als sein eigenstes ausgesuchtes
Besitztum in Anspruch nahm, haben die Keilschrifttexte der alten sumerischen
Bußpsalmen als Gemeingut der Semiten überhaupt aufgeklärt. Es wäre thöricht,
sich den untrüglichen Errungenschaften der Altertumswissenschaft verschließen zu
wollen, lediglich um einem einzigen Volke die Glorie zusprechen zu können, welche
einer ganzen Völkergemeinschaft, dem Semitcntum, eigentümlich war. Das wesent¬
liche Verdienst des Judentums, den Monotheismus in das Semitcntum ver¬
pflanzt und ihn — wenigstens zeitweise — mit echt semitischer Frömmigkeit ge¬
pflegt zu haben, wird dem Volke Israel doch bleiben, und keine Wissenschaft
wird es ihm zu nehmen wagen.

Aber die Wissenschaft verlangt, daß Wahrheit und Dichtung auf jedem
Gebiet ihrer Forschung auseinander gehalten werde, auch in den Geschichten des
Alten Testaments. Und umsomehr da, wo auch die Vernunft die Dichtung
sofort als solche kennzeichnet. Um sämtliche Arten belebter Wesen im Falle
einer allgemeinen Erdüberflutung am Leben zu erhalten, hätte Noah 6266 Arten
Vierfüßler, 658 Arten Vögel, 642 Arten Reptilien und 550 000 Arten Insekten
in seine Arche aufnehmen müssen, von jeder Sorte ein Paar, von den reinen Tieren
je sieben Paare. Dazu das Futter für die lange Zeit! Wie hätte selbst ein
Schiff wie Nocchs Arche solche Ladung fassen können? Und woher in der kurzen


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[0451] Die Dnbar-Sage und der keilschriftliche Sintflutbericht. Wir dürfen demnach sagen, daß der biblische Flutbericht ursprünglich ein und derselben Quelle mit dem babylonischen Mythus ist, dann in judaistisch tendenziöser Weise bearbeitet und nochmals durch babylonische Sagen beeinflußt worden ist; daß wir mithin im Kcilschrifttexte eine ursprünglichere, einfachere, weniger übertriebene Gestalt der Flutsage haben, daß uns aber gleichwohl der biblische Bericht, freigeschält von jndaistischeu Ausschmückungen, als wertvolle Ergänzung zu dem Thema der babylonischen Flutgeschichte gelten darf. 4. Den EinWurf, daß die biblische Flutgeschichte überhaupt keine Sage sei, sondern, wie sie uns überliefert ist, dem Bereich der Thatsachen angehöre, daß also wirklich eine geschichtlich beglaubigte allgemeine Erdüberslutung stattgefunden habe, wird heute selbst der buchstabeugläubigste Theologe uicht mehr erheben. Verliert sie doch ihren Wert als speziell jüdische Heilsschrift schon durch den Nachweis, daß sie lange, bevor man an einen Jahvisten oder Elohisten dachte, von dem Keilschriftvolke schriftlich ausgezeichnet und noch länger vorher bildlich dargestellt worden ist, und zwar unter Hinzufügung desselben ethischen Moments, wonach die Flut als Strafe für die Sündhaftigkeit angesehen ward. Und ist doch überhaupt der Nimbus, mit dem das alte Judentum der Erzväter um¬ hüllt war, durch die Sprache uralter Denkmäler beseitigt; was an tief religiöser Anschauung und Frömmigkeit das Judentum als sein eigenstes ausgesuchtes Besitztum in Anspruch nahm, haben die Keilschrifttexte der alten sumerischen Bußpsalmen als Gemeingut der Semiten überhaupt aufgeklärt. Es wäre thöricht, sich den untrüglichen Errungenschaften der Altertumswissenschaft verschließen zu wollen, lediglich um einem einzigen Volke die Glorie zusprechen zu können, welche einer ganzen Völkergemeinschaft, dem Semitcntum, eigentümlich war. Das wesent¬ liche Verdienst des Judentums, den Monotheismus in das Semitcntum ver¬ pflanzt und ihn — wenigstens zeitweise — mit echt semitischer Frömmigkeit ge¬ pflegt zu haben, wird dem Volke Israel doch bleiben, und keine Wissenschaft wird es ihm zu nehmen wagen. Aber die Wissenschaft verlangt, daß Wahrheit und Dichtung auf jedem Gebiet ihrer Forschung auseinander gehalten werde, auch in den Geschichten des Alten Testaments. Und umsomehr da, wo auch die Vernunft die Dichtung sofort als solche kennzeichnet. Um sämtliche Arten belebter Wesen im Falle einer allgemeinen Erdüberflutung am Leben zu erhalten, hätte Noah 6266 Arten Vierfüßler, 658 Arten Vögel, 642 Arten Reptilien und 550 000 Arten Insekten in seine Arche aufnehmen müssen, von jeder Sorte ein Paar, von den reinen Tieren je sieben Paare. Dazu das Futter für die lange Zeit! Wie hätte selbst ein Schiff wie Nocchs Arche solche Ladung fassen können? Und woher in der kurzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/451>, abgerufen am 01.05.2024.