Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Litt böser Geist im heutigen England.

Fragen wir nun, nach welcher Richtung zur Zeit die Praxis vorzugsweise
hinneige und von welcher Seite deshalb eine Mahnung zunächst am Platze sei,
so ist es ja schwer, die Verhältnisse in ganz Deutschland zu überblicken, und
vielleicht sind sie auch nicht überall gleich. Soweit ich aber die Verhältnisse
kenne, glaube ich, daß zur Zeit die Gerichte mehr einem übertriebenen Kultus
der Neichsgerichtsentscheidungen, als einer übermäßig freien Richtung huldigen.
Es ist eben gar zu bequem, zu sagen: Das Reichsgericht hat so gesprochen,
und damit basta! Daß damit der Wissenschaftlichkeit unsrer Rechtsprechung
eine Gefahr droht, dürfte nicht zu verkennen sein. Jedenfalls dürfte, auch wenn
man zu einer allgemeinen Expektoration in dem Sinne der Eingangssätze des
vorstehenden Aufsatzes sich für berechtigt hielte, der Verfasser des frühern Ar¬
tikels nicht zu dem "Überfluß von Weltverbesserern und Kritikern" zu rechnen
sein, wenn er auf die Gefahr eines allzu großen Autoritätsglaubens hinwies.
Dagegen kaun man gewiß der Äußerung im Schlußsätze des vorstehenden Auf¬
satzes beistimmen: daß es bös mit unsrer Rechtspflege stehen würde, wenn nicht
mehr das geschulte Rechtsgefühl des Richters bei der Rechtsprechung den Aus¬
schlag gäbe. Aber ich vermag nicht, so wie es oben geschieht, das geschulte
Rechtsgefühl des Richters zur "wahren Wissenschaftlich^" in Gegensatz zu
stellen, und noch weniger glaube ich, daß dieses Rechtsgefühl, wenn man nicht
darunter eine rein handwerksmäßige Übung der Justiz versteht, in dem bloßen
Abschreiben von Präjudizien sich zu bethätige habe.



Gin böser Geist im heutigen England,
2.

harisäische Überhebung ist eine Gesinnung, die weder Gott noch
Menschen gefällt, aber Cent ist doch noch eine weit widerwärtigere
Art zu denken, zu reden und sich zu bewegen, und wenn in Eng¬
land engherzige Kirchlichkeit und Trunksucht gröbsten Kalibers
weitverbreitete Untugenden sind, so sind sie doch nur sporadisch,
wenn wir sie mit dem Cent vergleichen, der mittelbar oder unmittelbar beinahe
'nit jeder Gestalt der englischen Selbstsucht verwachsen ist. Es giebt kaum eine
unter unter den Idiosynkrasien des Volkes, besonders in seinen höhern Mittel¬
klassen, welche nicht Spuren davon zeigte. Gambetta rief einmal aus: 1.6
^Ä'log.1iAns, voila, 1'iznnenü! Unbefangne, ehrliche Engländer wie Carlyle, der


Litt böser Geist im heutigen England.

Fragen wir nun, nach welcher Richtung zur Zeit die Praxis vorzugsweise
hinneige und von welcher Seite deshalb eine Mahnung zunächst am Platze sei,
so ist es ja schwer, die Verhältnisse in ganz Deutschland zu überblicken, und
vielleicht sind sie auch nicht überall gleich. Soweit ich aber die Verhältnisse
kenne, glaube ich, daß zur Zeit die Gerichte mehr einem übertriebenen Kultus
der Neichsgerichtsentscheidungen, als einer übermäßig freien Richtung huldigen.
Es ist eben gar zu bequem, zu sagen: Das Reichsgericht hat so gesprochen,
und damit basta! Daß damit der Wissenschaftlichkeit unsrer Rechtsprechung
eine Gefahr droht, dürfte nicht zu verkennen sein. Jedenfalls dürfte, auch wenn
man zu einer allgemeinen Expektoration in dem Sinne der Eingangssätze des
vorstehenden Aufsatzes sich für berechtigt hielte, der Verfasser des frühern Ar¬
tikels nicht zu dem „Überfluß von Weltverbesserern und Kritikern" zu rechnen
sein, wenn er auf die Gefahr eines allzu großen Autoritätsglaubens hinwies.
Dagegen kaun man gewiß der Äußerung im Schlußsätze des vorstehenden Auf¬
satzes beistimmen: daß es bös mit unsrer Rechtspflege stehen würde, wenn nicht
mehr das geschulte Rechtsgefühl des Richters bei der Rechtsprechung den Aus¬
schlag gäbe. Aber ich vermag nicht, so wie es oben geschieht, das geschulte
Rechtsgefühl des Richters zur „wahren Wissenschaftlich^" in Gegensatz zu
stellen, und noch weniger glaube ich, daß dieses Rechtsgefühl, wenn man nicht
darunter eine rein handwerksmäßige Übung der Justiz versteht, in dem bloßen
Abschreiben von Präjudizien sich zu bethätige habe.



Gin böser Geist im heutigen England,
2.

harisäische Überhebung ist eine Gesinnung, die weder Gott noch
Menschen gefällt, aber Cent ist doch noch eine weit widerwärtigere
Art zu denken, zu reden und sich zu bewegen, und wenn in Eng¬
land engherzige Kirchlichkeit und Trunksucht gröbsten Kalibers
weitverbreitete Untugenden sind, so sind sie doch nur sporadisch,
wenn wir sie mit dem Cent vergleichen, der mittelbar oder unmittelbar beinahe
'nit jeder Gestalt der englischen Selbstsucht verwachsen ist. Es giebt kaum eine
unter unter den Idiosynkrasien des Volkes, besonders in seinen höhern Mittel¬
klassen, welche nicht Spuren davon zeigte. Gambetta rief einmal aus: 1.6
^Ä'log.1iAns, voila, 1'iznnenü! Unbefangne, ehrliche Engländer wie Carlyle, der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0541" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202640"/>
            <fw type="header" place="top"> Litt böser Geist im heutigen England.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2020"> Fragen wir nun, nach welcher Richtung zur Zeit die Praxis vorzugsweise<lb/>
hinneige und von welcher Seite deshalb eine Mahnung zunächst am Platze sei,<lb/>
so ist es ja schwer, die Verhältnisse in ganz Deutschland zu überblicken, und<lb/>
vielleicht sind sie auch nicht überall gleich. Soweit ich aber die Verhältnisse<lb/>
kenne, glaube ich, daß zur Zeit die Gerichte mehr einem übertriebenen Kultus<lb/>
der Neichsgerichtsentscheidungen, als einer übermäßig freien Richtung huldigen.<lb/>
Es ist eben gar zu bequem, zu sagen: Das Reichsgericht hat so gesprochen,<lb/>
und damit basta! Daß damit der Wissenschaftlichkeit unsrer Rechtsprechung<lb/>
eine Gefahr droht, dürfte nicht zu verkennen sein. Jedenfalls dürfte, auch wenn<lb/>
man zu einer allgemeinen Expektoration in dem Sinne der Eingangssätze des<lb/>
vorstehenden Aufsatzes sich für berechtigt hielte, der Verfasser des frühern Ar¬<lb/>
tikels nicht zu dem &#x201E;Überfluß von Weltverbesserern und Kritikern" zu rechnen<lb/>
sein, wenn er auf die Gefahr eines allzu großen Autoritätsglaubens hinwies.<lb/>
Dagegen kaun man gewiß der Äußerung im Schlußsätze des vorstehenden Auf¬<lb/>
satzes beistimmen: daß es bös mit unsrer Rechtspflege stehen würde, wenn nicht<lb/>
mehr das geschulte Rechtsgefühl des Richters bei der Rechtsprechung den Aus¬<lb/>
schlag gäbe. Aber ich vermag nicht, so wie es oben geschieht, das geschulte<lb/>
Rechtsgefühl des Richters zur &#x201E;wahren Wissenschaftlich^" in Gegensatz zu<lb/>
stellen, und noch weniger glaube ich, daß dieses Rechtsgefühl, wenn man nicht<lb/>
darunter eine rein handwerksmäßige Übung der Justiz versteht, in dem bloßen<lb/>
Abschreiben von Präjudizien sich zu bethätige habe.</p><lb/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341847_202098/figures/grenzboten_341847_202098_202640_003.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gin böser Geist im heutigen England,<lb/>
2. </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2021" next="#ID_2022"> harisäische Überhebung ist eine Gesinnung, die weder Gott noch<lb/>
Menschen gefällt, aber Cent ist doch noch eine weit widerwärtigere<lb/>
Art zu denken, zu reden und sich zu bewegen, und wenn in Eng¬<lb/>
land engherzige Kirchlichkeit und Trunksucht gröbsten Kalibers<lb/>
weitverbreitete Untugenden sind, so sind sie doch nur sporadisch,<lb/>
wenn wir sie mit dem Cent vergleichen, der mittelbar oder unmittelbar beinahe<lb/>
'nit jeder Gestalt der englischen Selbstsucht verwachsen ist. Es giebt kaum eine<lb/>
unter unter den Idiosynkrasien des Volkes, besonders in seinen höhern Mittel¬<lb/>
klassen, welche nicht Spuren davon zeigte. Gambetta rief einmal aus: 1.6<lb/>
^Ä'log.1iAns, voila, 1'iznnenü! Unbefangne, ehrliche Engländer wie Carlyle, der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0541] Litt böser Geist im heutigen England. Fragen wir nun, nach welcher Richtung zur Zeit die Praxis vorzugsweise hinneige und von welcher Seite deshalb eine Mahnung zunächst am Platze sei, so ist es ja schwer, die Verhältnisse in ganz Deutschland zu überblicken, und vielleicht sind sie auch nicht überall gleich. Soweit ich aber die Verhältnisse kenne, glaube ich, daß zur Zeit die Gerichte mehr einem übertriebenen Kultus der Neichsgerichtsentscheidungen, als einer übermäßig freien Richtung huldigen. Es ist eben gar zu bequem, zu sagen: Das Reichsgericht hat so gesprochen, und damit basta! Daß damit der Wissenschaftlichkeit unsrer Rechtsprechung eine Gefahr droht, dürfte nicht zu verkennen sein. Jedenfalls dürfte, auch wenn man zu einer allgemeinen Expektoration in dem Sinne der Eingangssätze des vorstehenden Aufsatzes sich für berechtigt hielte, der Verfasser des frühern Ar¬ tikels nicht zu dem „Überfluß von Weltverbesserern und Kritikern" zu rechnen sein, wenn er auf die Gefahr eines allzu großen Autoritätsglaubens hinwies. Dagegen kaun man gewiß der Äußerung im Schlußsätze des vorstehenden Auf¬ satzes beistimmen: daß es bös mit unsrer Rechtspflege stehen würde, wenn nicht mehr das geschulte Rechtsgefühl des Richters bei der Rechtsprechung den Aus¬ schlag gäbe. Aber ich vermag nicht, so wie es oben geschieht, das geschulte Rechtsgefühl des Richters zur „wahren Wissenschaftlich^" in Gegensatz zu stellen, und noch weniger glaube ich, daß dieses Rechtsgefühl, wenn man nicht darunter eine rein handwerksmäßige Übung der Justiz versteht, in dem bloßen Abschreiben von Präjudizien sich zu bethätige habe. [Abbildung] Gin böser Geist im heutigen England, 2. harisäische Überhebung ist eine Gesinnung, die weder Gott noch Menschen gefällt, aber Cent ist doch noch eine weit widerwärtigere Art zu denken, zu reden und sich zu bewegen, und wenn in Eng¬ land engherzige Kirchlichkeit und Trunksucht gröbsten Kalibers weitverbreitete Untugenden sind, so sind sie doch nur sporadisch, wenn wir sie mit dem Cent vergleichen, der mittelbar oder unmittelbar beinahe 'nit jeder Gestalt der englischen Selbstsucht verwachsen ist. Es giebt kaum eine unter unter den Idiosynkrasien des Volkes, besonders in seinen höhern Mittel¬ klassen, welche nicht Spuren davon zeigte. Gambetta rief einmal aus: 1.6 ^Ä'log.1iAns, voila, 1'iznnenü! Unbefangne, ehrliche Engländer wie Carlyle, der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/541
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/541>, abgerufen am 01.05.2024.