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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

gründeten Stammeszusammengehörigkeit der Bevölkerungen der Mittel- und
Kleinstaaten zu reden! Keins von den politischen Schlagwörtern, mit denen
man lange Jahre den gesunden Sinn des Volkes verwirrt und verblendet hat,
entbehrt so sehr aller geschichtlichen Begründung wie gerade dieses. Das be¬
weist ebenso schlagend die Gebietsentwicklung Baierns wie die der drei andern
süddeutschen Staaten.

(Fortsetzung folgt.)




Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.
v A. Llassen. on

einher Wissenschaft wir auch unser Leben gewidmet haben, es giebt
keine einzige, die uns nicht irgend einmal an Fragen führte,
die ans ihren eigenen Prinzipien nicht beantwortet werden können.
Wenn z. B. der Theologe bei seinem praktischem Berufe, Sitten-
gesetz und Glaubenssätze zu lehren, innehält und sich fragt: Was
ist Sittengesetz? und wie entsteht es? oder weiter gar die Frage stellt: Was ist
Gott? so wird er keine Antwort finden können, wenn er sich nicht an die Prin¬
zipien der menschlichen Verminst selbst wendet. Man kann zwar sagen, der
fromme Mensch habe gar kein Bedürfnis, solche Fragen aufzuwerfen und zu
beantworten, denn das Gefühl allein gebe uns die Befriedigung und den festen
Glauben, auch wenn die Vernunft gar nicht drein rede. Gewiß ist derjenige
glücklich zu preisen, dessen Gefühl so erzogen ist, daß er sich durch keine von
der Vernunft herrührende Zweifel in seinem festen Glauben stören läßt. Aber
in unserer Zeit wird eine solche Erziehung offenbar immer schwerer; denn alle
Schulbildung und ganz besonders der Unterricht in den Naturwissenschaften, sie
vereinigen ihren Einfluß auf unser Gemüt dahin, die Vernunft fortwährend zu
reizen, daß sie auch die Wahrheiten des Glaubens vor ihren Richterstuhl ziehe.
Gänzlich abweisen läßt sich die Vernunft auf diesem Gebiete nicht, wenigstens
nicht bei allen und nicht auf die Dauer. Das hat auch die mittelalterliche
Kirche sehr wohl gewußt und hat gerade deswegen beständig die Herrschaft über
alle Wissenschaften zu behaupten versucht. Aber wenn die philosophischen Waffen,
deren sich jene Kirche bediente, heutzutage zerbrochen und unwirksam geworden
sind, die Vernunft in Übereinstimmung mit dem Glauben zu erhalten, so ist
das Bedürfnis nach einer neuen Philosophie doppelt so dringend geworden,
wenn die verschiedenen Kräfte des menschlichen Gemütes nicht auf immer mit


Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

gründeten Stammeszusammengehörigkeit der Bevölkerungen der Mittel- und
Kleinstaaten zu reden! Keins von den politischen Schlagwörtern, mit denen
man lange Jahre den gesunden Sinn des Volkes verwirrt und verblendet hat,
entbehrt so sehr aller geschichtlichen Begründung wie gerade dieses. Das be¬
weist ebenso schlagend die Gebietsentwicklung Baierns wie die der drei andern
süddeutschen Staaten.

(Fortsetzung folgt.)




Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.
v A. Llassen. on

einher Wissenschaft wir auch unser Leben gewidmet haben, es giebt
keine einzige, die uns nicht irgend einmal an Fragen führte,
die ans ihren eigenen Prinzipien nicht beantwortet werden können.
Wenn z. B. der Theologe bei seinem praktischem Berufe, Sitten-
gesetz und Glaubenssätze zu lehren, innehält und sich fragt: Was
ist Sittengesetz? und wie entsteht es? oder weiter gar die Frage stellt: Was ist
Gott? so wird er keine Antwort finden können, wenn er sich nicht an die Prin¬
zipien der menschlichen Verminst selbst wendet. Man kann zwar sagen, der
fromme Mensch habe gar kein Bedürfnis, solche Fragen aufzuwerfen und zu
beantworten, denn das Gefühl allein gebe uns die Befriedigung und den festen
Glauben, auch wenn die Vernunft gar nicht drein rede. Gewiß ist derjenige
glücklich zu preisen, dessen Gefühl so erzogen ist, daß er sich durch keine von
der Vernunft herrührende Zweifel in seinem festen Glauben stören läßt. Aber
in unserer Zeit wird eine solche Erziehung offenbar immer schwerer; denn alle
Schulbildung und ganz besonders der Unterricht in den Naturwissenschaften, sie
vereinigen ihren Einfluß auf unser Gemüt dahin, die Vernunft fortwährend zu
reizen, daß sie auch die Wahrheiten des Glaubens vor ihren Richterstuhl ziehe.
Gänzlich abweisen läßt sich die Vernunft auf diesem Gebiete nicht, wenigstens
nicht bei allen und nicht auf die Dauer. Das hat auch die mittelalterliche
Kirche sehr wohl gewußt und hat gerade deswegen beständig die Herrschaft über
alle Wissenschaften zu behaupten versucht. Aber wenn die philosophischen Waffen,
deren sich jene Kirche bediente, heutzutage zerbrochen und unwirksam geworden
sind, die Vernunft in Übereinstimmung mit dem Glauben zu erhalten, so ist
das Bedürfnis nach einer neuen Philosophie doppelt so dringend geworden,
wenn die verschiedenen Kräfte des menschlichen Gemütes nicht auf immer mit


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[0319] Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben. gründeten Stammeszusammengehörigkeit der Bevölkerungen der Mittel- und Kleinstaaten zu reden! Keins von den politischen Schlagwörtern, mit denen man lange Jahre den gesunden Sinn des Volkes verwirrt und verblendet hat, entbehrt so sehr aller geschichtlichen Begründung wie gerade dieses. Das be¬ weist ebenso schlagend die Gebietsentwicklung Baierns wie die der drei andern süddeutschen Staaten. (Fortsetzung folgt.) Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben. v A. Llassen. on einher Wissenschaft wir auch unser Leben gewidmet haben, es giebt keine einzige, die uns nicht irgend einmal an Fragen führte, die ans ihren eigenen Prinzipien nicht beantwortet werden können. Wenn z. B. der Theologe bei seinem praktischem Berufe, Sitten- gesetz und Glaubenssätze zu lehren, innehält und sich fragt: Was ist Sittengesetz? und wie entsteht es? oder weiter gar die Frage stellt: Was ist Gott? so wird er keine Antwort finden können, wenn er sich nicht an die Prin¬ zipien der menschlichen Verminst selbst wendet. Man kann zwar sagen, der fromme Mensch habe gar kein Bedürfnis, solche Fragen aufzuwerfen und zu beantworten, denn das Gefühl allein gebe uns die Befriedigung und den festen Glauben, auch wenn die Vernunft gar nicht drein rede. Gewiß ist derjenige glücklich zu preisen, dessen Gefühl so erzogen ist, daß er sich durch keine von der Vernunft herrührende Zweifel in seinem festen Glauben stören läßt. Aber in unserer Zeit wird eine solche Erziehung offenbar immer schwerer; denn alle Schulbildung und ganz besonders der Unterricht in den Naturwissenschaften, sie vereinigen ihren Einfluß auf unser Gemüt dahin, die Vernunft fortwährend zu reizen, daß sie auch die Wahrheiten des Glaubens vor ihren Richterstuhl ziehe. Gänzlich abweisen läßt sich die Vernunft auf diesem Gebiete nicht, wenigstens nicht bei allen und nicht auf die Dauer. Das hat auch die mittelalterliche Kirche sehr wohl gewußt und hat gerade deswegen beständig die Herrschaft über alle Wissenschaften zu behaupten versucht. Aber wenn die philosophischen Waffen, deren sich jene Kirche bediente, heutzutage zerbrochen und unwirksam geworden sind, die Vernunft in Übereinstimmung mit dem Glauben zu erhalten, so ist das Bedürfnis nach einer neuen Philosophie doppelt so dringend geworden, wenn die verschiedenen Kräfte des menschlichen Gemütes nicht auf immer mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/319>, abgerufen am 04.05.2024.