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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halle in der Litteratur.

le deutsche Litteratur besitzt bei einer fast unübersehbaren Zahl
von Werken und Abhandlungen aller Art doch sehr wenig Bücher,
in denen der Versuch gemacht ist, das litterarische Leben einzelner
Landschaften oder Städte darzustellen. Daß es lohnend genug
ist, die Wirkungen der großen geistigen Bewegungen auch auf
abgeschlossene kleine Kreise zu schildern und die litterarischen Verhältnisse solcher
Orte zu betrachten, die keinen maßgebenden Anteil an der großen Entwicklung
genommen haben, hat beispielsweise ein Buch wie Jcmsens "Aus vergangenen
Tagen" (Oldenburgs litterarische und gesellschaftliche Zustände 1773--1811 dar¬
stellend) bewiesen. Um wie viel günstiger und lockender stellt sich die Aufgabe in
solchen Fällen dar, wo ein bedeutender Mittelpunkt litterarischen Lebens, eine Folge
hervorragender Erscheinungen zu schildern ist. Die bunte Mannigfaltigkeit der
deutschen Lokalverhältnissc, namentlich der starke, ja trotzige Individualismus des
deutschen Wesens, treten fürbas vorigen Jahrhundert in der Darstellung litterarischer
Entwicklungen und Kämpfe besonders deutlich hervor, und so könnte es einer
Litteraturgeschichte auf lokalem Hintergrunde kaum an interessanten Zügen und
lebendigen Gestalten fehlen. Vorausgesetzt natürlich, daß der rechte Forscher,
der die Mühe des eingehenden Studiums nicht scheut, und der rechte Dar¬
steller, welcher mit lebendiger Teilnahme bis zur lebendigen Anschauung vor¬
dringt, sich in einer Person zusammenfinden, wie es einige Male und neuerdings
wieder in dem vortrefflichen Buche "Aus Haltes Litteraturleben" von Wolde-
mar Kawerau*) geschehen ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel reich¬
haltiger und fesselnder der Stoff bei andern Städten sein würde, so läßt sich
an den Portraits und Skizzen, die Kawerau aus dem litterarischen Leben der
alten Saale- und Salzstadt entwirft, am besten erkennen, was in dieser Rich¬
tung noch zu leisten wäre. Einstweilen soll uns das geträumte Bessere das
Gute nicht verkümmern. Das Buch Kaweraus verdient nach Inhalt und Form
allgemeinere Teilnahme, es sind entschieden interessante Zustände und Gestalten,
die für unsre Erinnerung heraufbeschworen werden. Zu drei großen Gruppen
"Die Anfänge der Universität", "Pietismus und Nationalismus" und "Aus
der Blütezeit des Rationalismus" geordnet, entwirft der Verfasser die mannig-



*) Aus Haltes Litteraturleben. Von Woldemar Kawerau. Halle, Max
Niemeyer, 1333,


Halle in der Litteratur.

le deutsche Litteratur besitzt bei einer fast unübersehbaren Zahl
von Werken und Abhandlungen aller Art doch sehr wenig Bücher,
in denen der Versuch gemacht ist, das litterarische Leben einzelner
Landschaften oder Städte darzustellen. Daß es lohnend genug
ist, die Wirkungen der großen geistigen Bewegungen auch auf
abgeschlossene kleine Kreise zu schildern und die litterarischen Verhältnisse solcher
Orte zu betrachten, die keinen maßgebenden Anteil an der großen Entwicklung
genommen haben, hat beispielsweise ein Buch wie Jcmsens „Aus vergangenen
Tagen" (Oldenburgs litterarische und gesellschaftliche Zustände 1773—1811 dar¬
stellend) bewiesen. Um wie viel günstiger und lockender stellt sich die Aufgabe in
solchen Fällen dar, wo ein bedeutender Mittelpunkt litterarischen Lebens, eine Folge
hervorragender Erscheinungen zu schildern ist. Die bunte Mannigfaltigkeit der
deutschen Lokalverhältnissc, namentlich der starke, ja trotzige Individualismus des
deutschen Wesens, treten fürbas vorigen Jahrhundert in der Darstellung litterarischer
Entwicklungen und Kämpfe besonders deutlich hervor, und so könnte es einer
Litteraturgeschichte auf lokalem Hintergrunde kaum an interessanten Zügen und
lebendigen Gestalten fehlen. Vorausgesetzt natürlich, daß der rechte Forscher,
der die Mühe des eingehenden Studiums nicht scheut, und der rechte Dar¬
steller, welcher mit lebendiger Teilnahme bis zur lebendigen Anschauung vor¬
dringt, sich in einer Person zusammenfinden, wie es einige Male und neuerdings
wieder in dem vortrefflichen Buche „Aus Haltes Litteraturleben" von Wolde-
mar Kawerau*) geschehen ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel reich¬
haltiger und fesselnder der Stoff bei andern Städten sein würde, so läßt sich
an den Portraits und Skizzen, die Kawerau aus dem litterarischen Leben der
alten Saale- und Salzstadt entwirft, am besten erkennen, was in dieser Rich¬
tung noch zu leisten wäre. Einstweilen soll uns das geträumte Bessere das
Gute nicht verkümmern. Das Buch Kaweraus verdient nach Inhalt und Form
allgemeinere Teilnahme, es sind entschieden interessante Zustände und Gestalten,
die für unsre Erinnerung heraufbeschworen werden. Zu drei großen Gruppen
„Die Anfänge der Universität", „Pietismus und Nationalismus" und „Aus
der Blütezeit des Rationalismus" geordnet, entwirft der Verfasser die mannig-



*) Aus Haltes Litteraturleben. Von Woldemar Kawerau. Halle, Max
Niemeyer, 1333,
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[0557] [Abbildung] Halle in der Litteratur. le deutsche Litteratur besitzt bei einer fast unübersehbaren Zahl von Werken und Abhandlungen aller Art doch sehr wenig Bücher, in denen der Versuch gemacht ist, das litterarische Leben einzelner Landschaften oder Städte darzustellen. Daß es lohnend genug ist, die Wirkungen der großen geistigen Bewegungen auch auf abgeschlossene kleine Kreise zu schildern und die litterarischen Verhältnisse solcher Orte zu betrachten, die keinen maßgebenden Anteil an der großen Entwicklung genommen haben, hat beispielsweise ein Buch wie Jcmsens „Aus vergangenen Tagen" (Oldenburgs litterarische und gesellschaftliche Zustände 1773—1811 dar¬ stellend) bewiesen. Um wie viel günstiger und lockender stellt sich die Aufgabe in solchen Fällen dar, wo ein bedeutender Mittelpunkt litterarischen Lebens, eine Folge hervorragender Erscheinungen zu schildern ist. Die bunte Mannigfaltigkeit der deutschen Lokalverhältnissc, namentlich der starke, ja trotzige Individualismus des deutschen Wesens, treten fürbas vorigen Jahrhundert in der Darstellung litterarischer Entwicklungen und Kämpfe besonders deutlich hervor, und so könnte es einer Litteraturgeschichte auf lokalem Hintergrunde kaum an interessanten Zügen und lebendigen Gestalten fehlen. Vorausgesetzt natürlich, daß der rechte Forscher, der die Mühe des eingehenden Studiums nicht scheut, und der rechte Dar¬ steller, welcher mit lebendiger Teilnahme bis zur lebendigen Anschauung vor¬ dringt, sich in einer Person zusammenfinden, wie es einige Male und neuerdings wieder in dem vortrefflichen Buche „Aus Haltes Litteraturleben" von Wolde- mar Kawerau*) geschehen ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel reich¬ haltiger und fesselnder der Stoff bei andern Städten sein würde, so läßt sich an den Portraits und Skizzen, die Kawerau aus dem litterarischen Leben der alten Saale- und Salzstadt entwirft, am besten erkennen, was in dieser Rich¬ tung noch zu leisten wäre. Einstweilen soll uns das geträumte Bessere das Gute nicht verkümmern. Das Buch Kaweraus verdient nach Inhalt und Form allgemeinere Teilnahme, es sind entschieden interessante Zustände und Gestalten, die für unsre Erinnerung heraufbeschworen werden. Zu drei großen Gruppen „Die Anfänge der Universität", „Pietismus und Nationalismus" und „Aus der Blütezeit des Rationalismus" geordnet, entwirft der Verfasser die mannig- *) Aus Haltes Litteraturleben. Von Woldemar Kawerau. Halle, Max Niemeyer, 1333,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/557>, abgerufen am 04.05.2024.