Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sie sicherlich auch ihren Weg finden, wenn auch nicht von heute auf morgen,
so doch mit der Zeit. Es ist vielleicht auch manches an dem Vorschlage ver¬
besserungsbedürftig, aber da läßt sich helfen; der eine kommt auf diesen Ge¬
danken, der andre auf jenen. Wenn nur die Grundidee richtig ist, das Weitere
wird sich finden.


Lügen Nübling.


Tagebuchblätter eines Tonntagsphilosophen.
^. Prophezeiungen.

rophezeien, Prophetentum, Dinge, ohne die in alter Zeit die
Völker für ihr höheres Leben gar nicht auskommen konnte", nun
aber auch vom Lichte der Aufklärung in die Rumpelkammer ver¬
wiesen. Und doch braucht man nicht in Kinderstimmungen zurück
zu fallen, in Stimmungen, wo man z. B. von der Märchenwelt
erfüllt mit Leid empfand, daß es keine Feen und keine Zauberei mehr giebt,
um auch jetzt einmal in gespannter Lage einen sichern Ausblick in die Zukunft
zu wünschen oder zu versuchen, also den Prophetenblick, an den die alten Zeiten
glaubten. Und daß nicht alles daran bloß in die historische Rumpelkammer
paßt, daß das alte Prophetenwesen auch bei allem Dunst und leerem Schimmer
einen rechten Kern enthielt, das ist wohl auch nicht schwer zu sehen und hat
seinen Wert, nicht bloß geschichtlich genommen. Mir fällt, um kurz den Gesichts¬
punkt dafür aufzustellen, Wallensteins Wort bei Schiller ein (Wallensteins
Tod 2, 3):


Es giebt im Menschenleben Augenblicke,
Wo er dem Weltgeist näher ist als sonst
Und eine Frage frei hat an das Schicksal.

Ich erinnere mich noch, wie mich als Schüler, gerade rationalistisch genug
geschult und gestimmt, das Wort doch mit einem schönen Ahnen tief durch¬
zuckte, als ichs zuerst las. Setzt man sich für den Weltgeist, der, Wallensteins
Denkweise angemessen, etwas nach Mittelalter schmeckt, den Zeitgeist, für das
Schicksal, das nach Altertum schmeckt, die Zukunft, so hat man Wohl den
Gedanken in der Form, wie ihn auch die heutige nüchterne Denkweise noch
brauchen kann: es giebt in allen menschlichen Verhältnissen, die als Ganzes
in arbeitender Bewegung sind, einen Punkt oder eine Linie, wo die eigentliche
treibende Kraft wohnt, und trifft man in glücklicher Stunde mit seinem Denken


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sie sicherlich auch ihren Weg finden, wenn auch nicht von heute auf morgen,
so doch mit der Zeit. Es ist vielleicht auch manches an dem Vorschlage ver¬
besserungsbedürftig, aber da läßt sich helfen; der eine kommt auf diesen Ge¬
danken, der andre auf jenen. Wenn nur die Grundidee richtig ist, das Weitere
wird sich finden.


Lügen Nübling.


Tagebuchblätter eines Tonntagsphilosophen.
^. Prophezeiungen.

rophezeien, Prophetentum, Dinge, ohne die in alter Zeit die
Völker für ihr höheres Leben gar nicht auskommen konnte», nun
aber auch vom Lichte der Aufklärung in die Rumpelkammer ver¬
wiesen. Und doch braucht man nicht in Kinderstimmungen zurück
zu fallen, in Stimmungen, wo man z. B. von der Märchenwelt
erfüllt mit Leid empfand, daß es keine Feen und keine Zauberei mehr giebt,
um auch jetzt einmal in gespannter Lage einen sichern Ausblick in die Zukunft
zu wünschen oder zu versuchen, also den Prophetenblick, an den die alten Zeiten
glaubten. Und daß nicht alles daran bloß in die historische Rumpelkammer
paßt, daß das alte Prophetenwesen auch bei allem Dunst und leerem Schimmer
einen rechten Kern enthielt, das ist wohl auch nicht schwer zu sehen und hat
seinen Wert, nicht bloß geschichtlich genommen. Mir fällt, um kurz den Gesichts¬
punkt dafür aufzustellen, Wallensteins Wort bei Schiller ein (Wallensteins
Tod 2, 3):


Es giebt im Menschenleben Augenblicke,
Wo er dem Weltgeist näher ist als sonst
Und eine Frage frei hat an das Schicksal.

Ich erinnere mich noch, wie mich als Schüler, gerade rationalistisch genug
geschult und gestimmt, das Wort doch mit einem schönen Ahnen tief durch¬
zuckte, als ichs zuerst las. Setzt man sich für den Weltgeist, der, Wallensteins
Denkweise angemessen, etwas nach Mittelalter schmeckt, den Zeitgeist, für das
Schicksal, das nach Altertum schmeckt, die Zukunft, so hat man Wohl den
Gedanken in der Form, wie ihn auch die heutige nüchterne Denkweise noch
brauchen kann: es giebt in allen menschlichen Verhältnissen, die als Ganzes
in arbeitender Bewegung sind, einen Punkt oder eine Linie, wo die eigentliche
treibende Kraft wohnt, und trifft man in glücklicher Stunde mit seinem Denken


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289144"/>
          <fw type="header" place="top"> Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_42" prev="#ID_41"> sie sicherlich auch ihren Weg finden, wenn auch nicht von heute auf morgen,<lb/>
so doch mit der Zeit. Es ist vielleicht auch manches an dem Vorschlage ver¬<lb/>
besserungsbedürftig, aber da läßt sich helfen; der eine kommt auf diesen Ge¬<lb/>
danken, der andre auf jenen. Wenn nur die Grundidee richtig ist, das Weitere<lb/>
wird sich finden.</p><lb/>
          <note type="byline"> Lügen Nübling.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Tagebuchblätter eines Tonntagsphilosophen.<lb/>
^. Prophezeiungen.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_43" next="#ID_44"> rophezeien, Prophetentum, Dinge, ohne die in alter Zeit die<lb/>
Völker für ihr höheres Leben gar nicht auskommen konnte», nun<lb/>
aber auch vom Lichte der Aufklärung in die Rumpelkammer ver¬<lb/>
wiesen. Und doch braucht man nicht in Kinderstimmungen zurück<lb/>
zu fallen, in Stimmungen, wo man z. B. von der Märchenwelt<lb/>
erfüllt mit Leid empfand, daß es keine Feen und keine Zauberei mehr giebt,<lb/>
um auch jetzt einmal in gespannter Lage einen sichern Ausblick in die Zukunft<lb/>
zu wünschen oder zu versuchen, also den Prophetenblick, an den die alten Zeiten<lb/>
glaubten. Und daß nicht alles daran bloß in die historische Rumpelkammer<lb/>
paßt, daß das alte Prophetenwesen auch bei allem Dunst und leerem Schimmer<lb/>
einen rechten Kern enthielt, das ist wohl auch nicht schwer zu sehen und hat<lb/>
seinen Wert, nicht bloß geschichtlich genommen. Mir fällt, um kurz den Gesichts¬<lb/>
punkt dafür aufzustellen, Wallensteins Wort bei Schiller ein (Wallensteins<lb/>
Tod 2, 3):</p><lb/>
          <quote> Es giebt im Menschenleben Augenblicke,<lb/>
Wo er dem Weltgeist näher ist als sonst<lb/>
Und eine Frage frei hat an das Schicksal.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_44" prev="#ID_43" next="#ID_45"> Ich erinnere mich noch, wie mich als Schüler, gerade rationalistisch genug<lb/>
geschult und gestimmt, das Wort doch mit einem schönen Ahnen tief durch¬<lb/>
zuckte, als ichs zuerst las. Setzt man sich für den Weltgeist, der, Wallensteins<lb/>
Denkweise angemessen, etwas nach Mittelalter schmeckt, den Zeitgeist, für das<lb/>
Schicksal, das nach Altertum schmeckt, die Zukunft, so hat man Wohl den<lb/>
Gedanken in der Form, wie ihn auch die heutige nüchterne Denkweise noch<lb/>
brauchen kann: es giebt in allen menschlichen Verhältnissen, die als Ganzes<lb/>
in arbeitender Bewegung sind, einen Punkt oder eine Linie, wo die eigentliche<lb/>
treibende Kraft wohnt, und trifft man in glücklicher Stunde mit seinem Denken</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0021] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. sie sicherlich auch ihren Weg finden, wenn auch nicht von heute auf morgen, so doch mit der Zeit. Es ist vielleicht auch manches an dem Vorschlage ver¬ besserungsbedürftig, aber da läßt sich helfen; der eine kommt auf diesen Ge¬ danken, der andre auf jenen. Wenn nur die Grundidee richtig ist, das Weitere wird sich finden. Lügen Nübling. Tagebuchblätter eines Tonntagsphilosophen. ^. Prophezeiungen. rophezeien, Prophetentum, Dinge, ohne die in alter Zeit die Völker für ihr höheres Leben gar nicht auskommen konnte», nun aber auch vom Lichte der Aufklärung in die Rumpelkammer ver¬ wiesen. Und doch braucht man nicht in Kinderstimmungen zurück zu fallen, in Stimmungen, wo man z. B. von der Märchenwelt erfüllt mit Leid empfand, daß es keine Feen und keine Zauberei mehr giebt, um auch jetzt einmal in gespannter Lage einen sichern Ausblick in die Zukunft zu wünschen oder zu versuchen, also den Prophetenblick, an den die alten Zeiten glaubten. Und daß nicht alles daran bloß in die historische Rumpelkammer paßt, daß das alte Prophetenwesen auch bei allem Dunst und leerem Schimmer einen rechten Kern enthielt, das ist wohl auch nicht schwer zu sehen und hat seinen Wert, nicht bloß geschichtlich genommen. Mir fällt, um kurz den Gesichts¬ punkt dafür aufzustellen, Wallensteins Wort bei Schiller ein (Wallensteins Tod 2, 3): Es giebt im Menschenleben Augenblicke, Wo er dem Weltgeist näher ist als sonst Und eine Frage frei hat an das Schicksal. Ich erinnere mich noch, wie mich als Schüler, gerade rationalistisch genug geschult und gestimmt, das Wort doch mit einem schönen Ahnen tief durch¬ zuckte, als ichs zuerst las. Setzt man sich für den Weltgeist, der, Wallensteins Denkweise angemessen, etwas nach Mittelalter schmeckt, den Zeitgeist, für das Schicksal, das nach Altertum schmeckt, die Zukunft, so hat man Wohl den Gedanken in der Form, wie ihn auch die heutige nüchterne Denkweise noch brauchen kann: es giebt in allen menschlichen Verhältnissen, die als Ganzes in arbeitender Bewegung sind, einen Punkt oder eine Linie, wo die eigentliche treibende Kraft wohnt, und trifft man in glücklicher Stunde mit seinem Denken

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/21
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/21>, abgerufen am 05.05.2024.