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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur.

groß die Barbarei dieses "heiligen" Reiches noch ist, wird man sich hier mit
Schaudern bewußt. Fränkel erzählt uns, wie rücksichtslos in den russischen Ostsee-
Provinzen das Deutschtum und der Protestantismus, alten, verbrieften Rechten
hohnsprechend, unterdrückt worden sind. Die Ordnung und der Wohlstand dieser von
Deutschen bewohnten Landstriche waren den slawischen Fanatikern ein Dorn im
Auge: lieber sahen sie eine Wüste, als die Deutschen. Dann erhalten wir eine
Reihe von wahrhaft erschrecklichen Bildern aus der Regierungszeit Nikolaus' I.
und Alexanders II. In Rußland giebt es keine Gerechtigkeit. Der Zar ist weit,
und die Polizei ist Alleinherrschern:; der Rubel allein schützt den Bürger vor
Willkür und Gewaltthätigkeit. Das glänzendste Kapitel des Buches ist das letzte:
der russische Nationalcharakter und seine Wirkungen auf das russische Leben. "Nit-
schewv! Es macht nichts!" In diesen: Lieblingswort aller Volksklassen spiegelt
sich die Volksseele ab. Der Russe ist im Durchschnitt wenig ausdauernd in der
Arbeit, darum bringt er es bei aller Vielseitigkeit zu keiner Meisterschaft und ist
in allem Handwerk vom Auslande abhängig. Seine Sorglosigkeit hängt mit seiner
praktischen Begabung für alles Mögliche zusammen, aber sie führt ihn auch zur
Genußsucht, Verschwendung, Unzuverlässigkeit, Zeitvergeudung, Trunksucht. Er hat
eine außerordentliche Lebhaftigkeit der Empfindung, aber Wankelmut und Mangel
an Beharrlichkeit stehen mit ihr in Verbindung. Er ist der gutmütigste und liebens¬
würdigste Mensch, ein zärtlicher Familienvater, offenherzig, zutraulich, zugleich aber
auch geschwätzig, unklug. Die maßlose russische Gastfreundschaft ist ebenso bekannt,
wie russische Grausamkeit, Rohheit (z. B. bei Behandlung von Gefangenen). Das
Volk ist unterwürfig bis zur Kriecherei, der Behörde gegenüber hat es gar kein,
weder männlich-persönliches, noch bürgerliches Selbstgefühl. Woher auch? Das
rauhe Klima hat den russischen Soldaten zwar abgehärtet gegen jede Strapaze,
aber seine Schwermut macht ihn auch langsam in allen körperlichen Bewegungen.
Damit hängt seine geistige Trägheit zusammen. Die Treue im Kleinen kennt der
Russe nicht. Statt originalen Unternehmungsgeistes besitzt er nur das Talent der
Nachahmung. Die russischen Romane, die ja meist realistische Erzählungen sind,
bestätigen nur dieses Charakterbild.






wir machen unsre Leser aus die Rubrik des Umschlags "Neues vom Büchermarkt" aufmerksam.




Litteratur.

groß die Barbarei dieses „heiligen" Reiches noch ist, wird man sich hier mit
Schaudern bewußt. Fränkel erzählt uns, wie rücksichtslos in den russischen Ostsee-
Provinzen das Deutschtum und der Protestantismus, alten, verbrieften Rechten
hohnsprechend, unterdrückt worden sind. Die Ordnung und der Wohlstand dieser von
Deutschen bewohnten Landstriche waren den slawischen Fanatikern ein Dorn im
Auge: lieber sahen sie eine Wüste, als die Deutschen. Dann erhalten wir eine
Reihe von wahrhaft erschrecklichen Bildern aus der Regierungszeit Nikolaus' I.
und Alexanders II. In Rußland giebt es keine Gerechtigkeit. Der Zar ist weit,
und die Polizei ist Alleinherrschern:; der Rubel allein schützt den Bürger vor
Willkür und Gewaltthätigkeit. Das glänzendste Kapitel des Buches ist das letzte:
der russische Nationalcharakter und seine Wirkungen auf das russische Leben. „Nit-
schewv! Es macht nichts!" In diesen: Lieblingswort aller Volksklassen spiegelt
sich die Volksseele ab. Der Russe ist im Durchschnitt wenig ausdauernd in der
Arbeit, darum bringt er es bei aller Vielseitigkeit zu keiner Meisterschaft und ist
in allem Handwerk vom Auslande abhängig. Seine Sorglosigkeit hängt mit seiner
praktischen Begabung für alles Mögliche zusammen, aber sie führt ihn auch zur
Genußsucht, Verschwendung, Unzuverlässigkeit, Zeitvergeudung, Trunksucht. Er hat
eine außerordentliche Lebhaftigkeit der Empfindung, aber Wankelmut und Mangel
an Beharrlichkeit stehen mit ihr in Verbindung. Er ist der gutmütigste und liebens¬
würdigste Mensch, ein zärtlicher Familienvater, offenherzig, zutraulich, zugleich aber
auch geschwätzig, unklug. Die maßlose russische Gastfreundschaft ist ebenso bekannt,
wie russische Grausamkeit, Rohheit (z. B. bei Behandlung von Gefangenen). Das
Volk ist unterwürfig bis zur Kriecherei, der Behörde gegenüber hat es gar kein,
weder männlich-persönliches, noch bürgerliches Selbstgefühl. Woher auch? Das
rauhe Klima hat den russischen Soldaten zwar abgehärtet gegen jede Strapaze,
aber seine Schwermut macht ihn auch langsam in allen körperlichen Bewegungen.
Damit hängt seine geistige Trägheit zusammen. Die Treue im Kleinen kennt der
Russe nicht. Statt originalen Unternehmungsgeistes besitzt er nur das Talent der
Nachahmung. Die russischen Romane, die ja meist realistische Erzählungen sind,
bestätigen nur dieses Charakterbild.






wir machen unsre Leser aus die Rubrik des Umschlags „Neues vom Büchermarkt" aufmerksam.




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[0584] Litteratur. groß die Barbarei dieses „heiligen" Reiches noch ist, wird man sich hier mit Schaudern bewußt. Fränkel erzählt uns, wie rücksichtslos in den russischen Ostsee- Provinzen das Deutschtum und der Protestantismus, alten, verbrieften Rechten hohnsprechend, unterdrückt worden sind. Die Ordnung und der Wohlstand dieser von Deutschen bewohnten Landstriche waren den slawischen Fanatikern ein Dorn im Auge: lieber sahen sie eine Wüste, als die Deutschen. Dann erhalten wir eine Reihe von wahrhaft erschrecklichen Bildern aus der Regierungszeit Nikolaus' I. und Alexanders II. In Rußland giebt es keine Gerechtigkeit. Der Zar ist weit, und die Polizei ist Alleinherrschern:; der Rubel allein schützt den Bürger vor Willkür und Gewaltthätigkeit. Das glänzendste Kapitel des Buches ist das letzte: der russische Nationalcharakter und seine Wirkungen auf das russische Leben. „Nit- schewv! Es macht nichts!" In diesen: Lieblingswort aller Volksklassen spiegelt sich die Volksseele ab. Der Russe ist im Durchschnitt wenig ausdauernd in der Arbeit, darum bringt er es bei aller Vielseitigkeit zu keiner Meisterschaft und ist in allem Handwerk vom Auslande abhängig. Seine Sorglosigkeit hängt mit seiner praktischen Begabung für alles Mögliche zusammen, aber sie führt ihn auch zur Genußsucht, Verschwendung, Unzuverlässigkeit, Zeitvergeudung, Trunksucht. Er hat eine außerordentliche Lebhaftigkeit der Empfindung, aber Wankelmut und Mangel an Beharrlichkeit stehen mit ihr in Verbindung. Er ist der gutmütigste und liebens¬ würdigste Mensch, ein zärtlicher Familienvater, offenherzig, zutraulich, zugleich aber auch geschwätzig, unklug. Die maßlose russische Gastfreundschaft ist ebenso bekannt, wie russische Grausamkeit, Rohheit (z. B. bei Behandlung von Gefangenen). Das Volk ist unterwürfig bis zur Kriecherei, der Behörde gegenüber hat es gar kein, weder männlich-persönliches, noch bürgerliches Selbstgefühl. Woher auch? Das rauhe Klima hat den russischen Soldaten zwar abgehärtet gegen jede Strapaze, aber seine Schwermut macht ihn auch langsam in allen körperlichen Bewegungen. Damit hängt seine geistige Trägheit zusammen. Die Treue im Kleinen kennt der Russe nicht. Statt originalen Unternehmungsgeistes besitzt er nur das Talent der Nachahmung. Die russischen Romane, die ja meist realistische Erzählungen sind, bestätigen nur dieses Charakterbild. wir machen unsre Leser aus die Rubrik des Umschlags „Neues vom Büchermarkt" aufmerksam.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/584>, abgerufen am 05.05.2024.