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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Ans Österreich

'ganz' im Sinne aller damaligen geistigen Führer seiner Nation -- 'wenn die
Nntur den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und
Beruf zum freien Denken, entwickelt hat, so wirkt dieser allmählich zurück ans
die Sinnesart des Volkes, wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und
nach fähiger wird, und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung.
"Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem
Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber nie¬
mals wahre Reform der Denkungsart zu Staude kommen; sondern neue Vor¬
urteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen
großen Haufens dienen."

Im Glauben an die durch geistige Bildung und Aufklärung zu voll¬
ziehende friedliche kosmopolitische Umwälzung begegneten sich mit Kant, mit
Schiller und Goethe alle Auserwählten unsers Volkes. Dieser Glaube verleiht
den deutscheu "Ideen von 1789" ihr Gepräge, wie die Revolution jenseits
des Rheins ihren tiefsten ideellen Stützpunkt faud in dein Glauben an die
Chnraktergüte und die unfehlbare politische Vernunft der Volksmassen. Wenn
die Deutschen seitdem gelernt haben, die Einseitigkeit zu erkennen, die dem
Idealismus unsrer Väter zu Ausgang des verflossenen Jahrhunderts an¬
haftete, so haben sie anderseits sich niemals veranlaßt sehen können, ihren
Glanben an Fortschritt dnrch Bildung jenem Ideal zu opfern, das, unter
dem gleißenden Rainen der Souveränität des Volkes angepriesen, doch in
keinem unsrer großen enropäischen Kulturstaaten wahre Freiheit zu begründen
vermocht hat. ^




Aus Österreich.

er arme Kaiser!" Dieser Ausruf ist in den letzten Tagen gewiß
millionenfach ertönt. Überall, wo die Empfindung sich natürlich,
ungeschminkt äußerte, galt ohne Zweifel das herzliche Bedauern
vor allem, dein Fürsten, dein das Geschick immer aufs neue
die herbsten Prüfungen auferlegt. Der Person des Kaisers wird
von allen Völkerschaften, allen politischen und kirchlichen Parteien so wahre
und warme Sympathie entgegengebracht, daß die menschliche Teilnahme zuerst
alle Erwägung der Folgen des erschütternden Ereignisses für das Allgemeine
zurückdrängen mußte. In um so peinlicheren Gegensatze zu dieser Stimmung
stehen mancherlei öffentliche .Kundgebungen. Ein Teil der Presse benahm sich


Ans Österreich

'ganz' im Sinne aller damaligen geistigen Führer seiner Nation — 'wenn die
Nntur den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und
Beruf zum freien Denken, entwickelt hat, so wirkt dieser allmählich zurück ans
die Sinnesart des Volkes, wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und
nach fähiger wird, und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung.
»Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem
Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber nie¬
mals wahre Reform der Denkungsart zu Staude kommen; sondern neue Vor¬
urteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen
großen Haufens dienen."

Im Glauben an die durch geistige Bildung und Aufklärung zu voll¬
ziehende friedliche kosmopolitische Umwälzung begegneten sich mit Kant, mit
Schiller und Goethe alle Auserwählten unsers Volkes. Dieser Glaube verleiht
den deutscheu „Ideen von 1789" ihr Gepräge, wie die Revolution jenseits
des Rheins ihren tiefsten ideellen Stützpunkt faud in dein Glauben an die
Chnraktergüte und die unfehlbare politische Vernunft der Volksmassen. Wenn
die Deutschen seitdem gelernt haben, die Einseitigkeit zu erkennen, die dem
Idealismus unsrer Väter zu Ausgang des verflossenen Jahrhunderts an¬
haftete, so haben sie anderseits sich niemals veranlaßt sehen können, ihren
Glanben an Fortschritt dnrch Bildung jenem Ideal zu opfern, das, unter
dem gleißenden Rainen der Souveränität des Volkes angepriesen, doch in
keinem unsrer großen enropäischen Kulturstaaten wahre Freiheit zu begründen
vermocht hat. ^




Aus Österreich.

er arme Kaiser!" Dieser Ausruf ist in den letzten Tagen gewiß
millionenfach ertönt. Überall, wo die Empfindung sich natürlich,
ungeschminkt äußerte, galt ohne Zweifel das herzliche Bedauern
vor allem, dein Fürsten, dein das Geschick immer aufs neue
die herbsten Prüfungen auferlegt. Der Person des Kaisers wird
von allen Völkerschaften, allen politischen und kirchlichen Parteien so wahre
und warme Sympathie entgegengebracht, daß die menschliche Teilnahme zuerst
alle Erwägung der Folgen des erschütternden Ereignisses für das Allgemeine
zurückdrängen mußte. In um so peinlicheren Gegensatze zu dieser Stimmung
stehen mancherlei öffentliche .Kundgebungen. Ein Teil der Presse benahm sich


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[0295] Ans Österreich 'ganz' im Sinne aller damaligen geistigen Führer seiner Nation — 'wenn die Nntur den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, entwickelt hat, so wirkt dieser allmählich zurück ans die Sinnesart des Volkes, wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird, und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung. »Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber nie¬ mals wahre Reform der Denkungsart zu Staude kommen; sondern neue Vor¬ urteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen." Im Glauben an die durch geistige Bildung und Aufklärung zu voll¬ ziehende friedliche kosmopolitische Umwälzung begegneten sich mit Kant, mit Schiller und Goethe alle Auserwählten unsers Volkes. Dieser Glaube verleiht den deutscheu „Ideen von 1789" ihr Gepräge, wie die Revolution jenseits des Rheins ihren tiefsten ideellen Stützpunkt faud in dein Glauben an die Chnraktergüte und die unfehlbare politische Vernunft der Volksmassen. Wenn die Deutschen seitdem gelernt haben, die Einseitigkeit zu erkennen, die dem Idealismus unsrer Väter zu Ausgang des verflossenen Jahrhunderts an¬ haftete, so haben sie anderseits sich niemals veranlaßt sehen können, ihren Glanben an Fortschritt dnrch Bildung jenem Ideal zu opfern, das, unter dem gleißenden Rainen der Souveränität des Volkes angepriesen, doch in keinem unsrer großen enropäischen Kulturstaaten wahre Freiheit zu begründen vermocht hat. ^ Aus Österreich. er arme Kaiser!" Dieser Ausruf ist in den letzten Tagen gewiß millionenfach ertönt. Überall, wo die Empfindung sich natürlich, ungeschminkt äußerte, galt ohne Zweifel das herzliche Bedauern vor allem, dein Fürsten, dein das Geschick immer aufs neue die herbsten Prüfungen auferlegt. Der Person des Kaisers wird von allen Völkerschaften, allen politischen und kirchlichen Parteien so wahre und warme Sympathie entgegengebracht, daß die menschliche Teilnahme zuerst alle Erwägung der Folgen des erschütternden Ereignisses für das Allgemeine zurückdrängen mußte. In um so peinlicheren Gegensatze zu dieser Stimmung stehen mancherlei öffentliche .Kundgebungen. Ein Teil der Presse benahm sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/295>, abgerufen am 05.05.2024.