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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Nationalgefühl

Gleicht behält der einmal Recht, der hie und da schon wahr¬
zunehmen und herauszufühlen glaubt, das? wir in Deutschland
jetzt im ersten Beginn eines Zeitalters leben, in dessen Verlauf
es dahin kommen wird, daß der einzelne Bürger sich kühl und
einfach entscheidet, ob er national gesinnt sein will oder nicht,
oder, anders gesagt, daß im Kampfe der Meinungen und Wünsche über staat¬
liche, bürgerliche, soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten zwei große Lager
entstehen werden, von denen das eine vor allem den vaterländischen Mittelpunkt
bekämpfen wird, um den sich die Gedanken, Bestrebungen und Ziele des andern
herumschließen. Freilich werden die Ansätze zu einer offnen Scheidung der Art
heute noch durch sehr vieles verdeckt, insbesondre dadurch, daß, ebenso wie in
religiösen Dingen, sehr wenige gegen sich selbst und gegen andre aufrichtig und
ehrlich sind, es immer noch eine fast von allen beobachtete Form äußerlichen
Anstandes ist, wenigstens bei öffentlicher Festgelegenheit national zu sein. Dazu
noch durch sehr viele andre hergebrachte Dinge: durch die zum Teil den Inhalt
nicht mehr deckenden Benennungen der politischen Parteien und durch die innern
Unmöglichkeiten innerhalb und unter diesen Parteien, zu denen z. B. das frohe
preußische Herz gehört, das so manchem Berliner im Grunde doch nnter dem
freisinnigen Rocke klopft, zu denen weiter auch der äußere Anschein der Ein¬
heitlichkeit des Zentrums und der vollkommen diametrale Gegensatz der sozialen
Ziele bei dem Fortschrittler und den: Sozialisten gehören, ferner die vor der
Hand auch von einer gemeinsamen antinationalen Gesinnung nicht zu über¬
brückende Kluft zwischen dem in römisch-universalen Anschauungen stehenden
Mtramontanismus und der kosmvpolitisirenden oder noch lieber im Auftreten
französelnden Spielart des Freisinnes u, s. w. Dann, abgesehen von den ver¬
schiedenartigen zukunftslosen Trotzgebilden politischer Anschauung oder vielmehr
Nichtanschanung, von denen verschiedne auch der kleinern Einzelstaaten noch
ein wenig geplagt sind, die aber das Ganze längst nicht mehr berühren, durch
die glückliche Form des Doppelverhältnisses, in dem jeder zu feinern Staate
und zum Reiche steht, vor allem aber auch durch das unvollendete Schicksal
der verschiednen fremden Bestandteile innerhalb der deutschen Grenzen und ihre
eigne Unentschiedenheit, welche Stellung sie schließlich einnehmen wollen, und




Das Nationalgefühl

Gleicht behält der einmal Recht, der hie und da schon wahr¬
zunehmen und herauszufühlen glaubt, das? wir in Deutschland
jetzt im ersten Beginn eines Zeitalters leben, in dessen Verlauf
es dahin kommen wird, daß der einzelne Bürger sich kühl und
einfach entscheidet, ob er national gesinnt sein will oder nicht,
oder, anders gesagt, daß im Kampfe der Meinungen und Wünsche über staat¬
liche, bürgerliche, soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten zwei große Lager
entstehen werden, von denen das eine vor allem den vaterländischen Mittelpunkt
bekämpfen wird, um den sich die Gedanken, Bestrebungen und Ziele des andern
herumschließen. Freilich werden die Ansätze zu einer offnen Scheidung der Art
heute noch durch sehr vieles verdeckt, insbesondre dadurch, daß, ebenso wie in
religiösen Dingen, sehr wenige gegen sich selbst und gegen andre aufrichtig und
ehrlich sind, es immer noch eine fast von allen beobachtete Form äußerlichen
Anstandes ist, wenigstens bei öffentlicher Festgelegenheit national zu sein. Dazu
noch durch sehr viele andre hergebrachte Dinge: durch die zum Teil den Inhalt
nicht mehr deckenden Benennungen der politischen Parteien und durch die innern
Unmöglichkeiten innerhalb und unter diesen Parteien, zu denen z. B. das frohe
preußische Herz gehört, das so manchem Berliner im Grunde doch nnter dem
freisinnigen Rocke klopft, zu denen weiter auch der äußere Anschein der Ein¬
heitlichkeit des Zentrums und der vollkommen diametrale Gegensatz der sozialen
Ziele bei dem Fortschrittler und den: Sozialisten gehören, ferner die vor der
Hand auch von einer gemeinsamen antinationalen Gesinnung nicht zu über¬
brückende Kluft zwischen dem in römisch-universalen Anschauungen stehenden
Mtramontanismus und der kosmvpolitisirenden oder noch lieber im Auftreten
französelnden Spielart des Freisinnes u, s. w. Dann, abgesehen von den ver¬
schiedenartigen zukunftslosen Trotzgebilden politischer Anschauung oder vielmehr
Nichtanschanung, von denen verschiedne auch der kleinern Einzelstaaten noch
ein wenig geplagt sind, die aber das Ganze längst nicht mehr berühren, durch
die glückliche Form des Doppelverhältnisses, in dem jeder zu feinern Staate
und zum Reiche steht, vor allem aber auch durch das unvollendete Schicksal
der verschiednen fremden Bestandteile innerhalb der deutschen Grenzen und ihre
eigne Unentschiedenheit, welche Stellung sie schließlich einnehmen wollen, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/16>, abgerufen am 05.05.2024.