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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

ihren Hilfswisseuschafteu, die Poesie, Philosophie und Religion, welche gefragt
werden müssen." Wahrscheinlich soll die Umfrage in den nächsten Heften ge¬
halten werden.


2

Indem wir uns nun zur grundsätzlichen Prüfung der Ansicht Brechts
wenden, müssen wir zunächst unterscheiden zwischen dem Patriotismus als
einzelner Tugend und dem Patriotismus als der Wurzel der übrigen Tugenden.
Daß der Patriotismus im ersten Sinne der Stärkung, Vertiefung, Veredlung
und größern Verbreitung bedarf, ist gar keine Frage. Wenn reiche Leute den
Staat um einen großen, vielleicht um den größten Teil der Steuern betrügen,
die sie zu zahlen schuldig sind, so muß ihnen öffentlich vor aller Welt gesagt
werden, daß das abscheulich und eine Schande sei. Und wenn sich solche
Männer gar zu den Patrioten zu rechnen die Kühnheit haben sollten, so müßte
zur Strafe dafür die Frage aufgeworfen werden, ob sie nicht als ehrlos aus
den Wahllisten zu streichen seien. Ja es ist in unsrer Zeit äußerst nötig, es
ausdrücklich zu sagen, daß nicht das Maß der Vorteile, die einer vom Staate
zieht, sondern das Maß der Opfer, die er ihm bringt, den Patrioten aus¬
macht. Nur darf man nicht so weit gehen, zu fordern, daß der Patriot über¬
haupt nichts für sich, für seinen Stand, oder wie man heute lieber sagt, für
seine "Interessengruppe" verlangen solle. Das hieße Unmögliches fordern.
Denn wie es aus Erden keine Nächstenliebe ohne Selbstliebe, keine Tugend ohne
Selbstsucht giebt, so kann auch ein Patriotismus, der gar nichts für sich vom
Vaterlande erwartet, nicht zur allgemeinen Tugend aller Bürger werden. Aber
"in diesen wichtigen Punkt ordentlich zu verstehen, müssen wir Brechts Natur¬
geschichte des Patriotismus, die oberflächlich und unvollständig ist, ein wenig
ergänzen.

Die natürliche Grundlage alles Patriotismus wird von Breche gar nicht
erwähnt. Er spricht nur immer vom Staate, während doch der Name Patrio-
tismus ans das Vaterland hinweist. Land und Volk, auf diese beiden bezieht
sich ursprünglich der Patriotismus, und nicht auf den Staat, dessen Idee und
Bedürfnis sich erst auf einer spätern Stufe einfindet, und der auch auf den
höhern Stufen uicht unmittelbar und um seiner selbst willen geschätzt und ge¬
liebt wird, sondern nur als Mittel, unser Heimatland und unser Volkstum zu
behaupten und deren Schütze zu heben. Daher entspringt die stärkste und leb¬
hafteste Vaterlandsliebe in solchen Gegenden, wo Land und Volksleben ein so
eigentümliches Gepräge zeigen, daß der Volksgenosse nirgends anders in der
Welt die landschaftlichen Bilder seiner Heimat nud ihre Sitten wiederfindet.
Der Tiroler liebt seine Berge, seine Gemsjagd, seine Volkstracht, seine heimat¬
liche Mundart, seine Viehwirtschaft, kurzum sein Tirol, aber von Liebe zum
deutschen Vaterlande weiß er nichts, obwohl er ein Deutscher ist. Er liebt


Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

ihren Hilfswisseuschafteu, die Poesie, Philosophie und Religion, welche gefragt
werden müssen." Wahrscheinlich soll die Umfrage in den nächsten Heften ge¬
halten werden.


2

Indem wir uns nun zur grundsätzlichen Prüfung der Ansicht Brechts
wenden, müssen wir zunächst unterscheiden zwischen dem Patriotismus als
einzelner Tugend und dem Patriotismus als der Wurzel der übrigen Tugenden.
Daß der Patriotismus im ersten Sinne der Stärkung, Vertiefung, Veredlung
und größern Verbreitung bedarf, ist gar keine Frage. Wenn reiche Leute den
Staat um einen großen, vielleicht um den größten Teil der Steuern betrügen,
die sie zu zahlen schuldig sind, so muß ihnen öffentlich vor aller Welt gesagt
werden, daß das abscheulich und eine Schande sei. Und wenn sich solche
Männer gar zu den Patrioten zu rechnen die Kühnheit haben sollten, so müßte
zur Strafe dafür die Frage aufgeworfen werden, ob sie nicht als ehrlos aus
den Wahllisten zu streichen seien. Ja es ist in unsrer Zeit äußerst nötig, es
ausdrücklich zu sagen, daß nicht das Maß der Vorteile, die einer vom Staate
zieht, sondern das Maß der Opfer, die er ihm bringt, den Patrioten aus¬
macht. Nur darf man nicht so weit gehen, zu fordern, daß der Patriot über¬
haupt nichts für sich, für seinen Stand, oder wie man heute lieber sagt, für
seine „Interessengruppe" verlangen solle. Das hieße Unmögliches fordern.
Denn wie es aus Erden keine Nächstenliebe ohne Selbstliebe, keine Tugend ohne
Selbstsucht giebt, so kann auch ein Patriotismus, der gar nichts für sich vom
Vaterlande erwartet, nicht zur allgemeinen Tugend aller Bürger werden. Aber
»in diesen wichtigen Punkt ordentlich zu verstehen, müssen wir Brechts Natur¬
geschichte des Patriotismus, die oberflächlich und unvollständig ist, ein wenig
ergänzen.

Die natürliche Grundlage alles Patriotismus wird von Breche gar nicht
erwähnt. Er spricht nur immer vom Staate, während doch der Name Patrio-
tismus ans das Vaterland hinweist. Land und Volk, auf diese beiden bezieht
sich ursprünglich der Patriotismus, und nicht auf den Staat, dessen Idee und
Bedürfnis sich erst auf einer spätern Stufe einfindet, und der auch auf den
höhern Stufen uicht unmittelbar und um seiner selbst willen geschätzt und ge¬
liebt wird, sondern nur als Mittel, unser Heimatland und unser Volkstum zu
behaupten und deren Schütze zu heben. Daher entspringt die stärkste und leb¬
hafteste Vaterlandsliebe in solchen Gegenden, wo Land und Volksleben ein so
eigentümliches Gepräge zeigen, daß der Volksgenosse nirgends anders in der
Welt die landschaftlichen Bilder seiner Heimat nud ihre Sitten wiederfindet.
Der Tiroler liebt seine Berge, seine Gemsjagd, seine Volkstracht, seine heimat¬
liche Mundart, seine Viehwirtschaft, kurzum sein Tirol, aber von Liebe zum
deutschen Vaterlande weiß er nichts, obwohl er ein Deutscher ist. Er liebt


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[0357] Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit ihren Hilfswisseuschafteu, die Poesie, Philosophie und Religion, welche gefragt werden müssen." Wahrscheinlich soll die Umfrage in den nächsten Heften ge¬ halten werden. 2 Indem wir uns nun zur grundsätzlichen Prüfung der Ansicht Brechts wenden, müssen wir zunächst unterscheiden zwischen dem Patriotismus als einzelner Tugend und dem Patriotismus als der Wurzel der übrigen Tugenden. Daß der Patriotismus im ersten Sinne der Stärkung, Vertiefung, Veredlung und größern Verbreitung bedarf, ist gar keine Frage. Wenn reiche Leute den Staat um einen großen, vielleicht um den größten Teil der Steuern betrügen, die sie zu zahlen schuldig sind, so muß ihnen öffentlich vor aller Welt gesagt werden, daß das abscheulich und eine Schande sei. Und wenn sich solche Männer gar zu den Patrioten zu rechnen die Kühnheit haben sollten, so müßte zur Strafe dafür die Frage aufgeworfen werden, ob sie nicht als ehrlos aus den Wahllisten zu streichen seien. Ja es ist in unsrer Zeit äußerst nötig, es ausdrücklich zu sagen, daß nicht das Maß der Vorteile, die einer vom Staate zieht, sondern das Maß der Opfer, die er ihm bringt, den Patrioten aus¬ macht. Nur darf man nicht so weit gehen, zu fordern, daß der Patriot über¬ haupt nichts für sich, für seinen Stand, oder wie man heute lieber sagt, für seine „Interessengruppe" verlangen solle. Das hieße Unmögliches fordern. Denn wie es aus Erden keine Nächstenliebe ohne Selbstliebe, keine Tugend ohne Selbstsucht giebt, so kann auch ein Patriotismus, der gar nichts für sich vom Vaterlande erwartet, nicht zur allgemeinen Tugend aller Bürger werden. Aber »in diesen wichtigen Punkt ordentlich zu verstehen, müssen wir Brechts Natur¬ geschichte des Patriotismus, die oberflächlich und unvollständig ist, ein wenig ergänzen. Die natürliche Grundlage alles Patriotismus wird von Breche gar nicht erwähnt. Er spricht nur immer vom Staate, während doch der Name Patrio- tismus ans das Vaterland hinweist. Land und Volk, auf diese beiden bezieht sich ursprünglich der Patriotismus, und nicht auf den Staat, dessen Idee und Bedürfnis sich erst auf einer spätern Stufe einfindet, und der auch auf den höhern Stufen uicht unmittelbar und um seiner selbst willen geschätzt und ge¬ liebt wird, sondern nur als Mittel, unser Heimatland und unser Volkstum zu behaupten und deren Schütze zu heben. Daher entspringt die stärkste und leb¬ hafteste Vaterlandsliebe in solchen Gegenden, wo Land und Volksleben ein so eigentümliches Gepräge zeigen, daß der Volksgenosse nirgends anders in der Welt die landschaftlichen Bilder seiner Heimat nud ihre Sitten wiederfindet. Der Tiroler liebt seine Berge, seine Gemsjagd, seine Volkstracht, seine heimat¬ liche Mundart, seine Viehwirtschaft, kurzum sein Tirol, aber von Liebe zum deutschen Vaterlande weiß er nichts, obwohl er ein Deutscher ist. Er liebt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/357>, abgerufen am 27.04.2024.