Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hermann Sudermanns Erzählungen

die sittlichen Werte und deren eindrucksvolle Betonung für ein edles und ver¬
nünftiges Menschentum stellen auch Hegel in die Reihe der erlauchten Geister,
von denen Goethe sagt:


Preiset die Würdigsten hoch! Wie herrlich leuchtende Sterne
streute sie ans die Natur durch den unendlichen Rain".



Hermann Sudermanns Erzählungen
Moritz Necker von

as erste folgenreiche Erlebnis jedes tiefer angelegten Menschen
nach erwachtem Selbstbewußtsein ist der Konflikt mit der Kon¬
vention, der Gegensatz, in den die Innerlichkeit mit ihren Träumen
und Idealen zu der sie umgebenden Gesellschaft gerät, die diesen
Idealen nicht entspricht. Das erlebt jedes tiefere Gemüt, das
gehört zu den Jugendkrankheiten des edleren, reicher angelegten Geistes, und
davon haben unzähligemale Dichter, Philosophen und Biographen berichtet.
Goethe tritt in die Litteratur mit Werthers Leiden ein: Werther ist kein Mann
der Gesellschaft; Schiller will mit seinen Räubern das tintenklecksende Säkulum
aus den Fugen treiben; der grüne Heinrich Gottfried Kellers gerät gar schon
in der Schule in Konflikt mit dem Lehrer, der sich den wunderlichen Knaben
nicht erklären kann; Byron ist wie Jean Jacques Rousseau sein ganzes Leben
in diesem 'Gegensatz stecken geblieben; Hebbels Maria Magdnlena hat dasselbe
Thema des Widerspruches zwischen Natur und Übereinkunft; und Schopenhauer
erklärt nicht mit Unrecht jeden Jüngling geradezu für einen Flachkopf, wenn
nicht für eine gemeine Natur, der diesen schicksalsvollen Konflikt mit der Gesell¬
schaft, in die er hineinzuwachsen hat, nicht erleben muß. Denn die wirklichen
Zustände der menschlichen Gemeinschaft stimmen mit den Forderungen eines
naiven Ideals niemals überein. Sie sind vielmehr das Ergebnis von Zu¬
geständnissen, Abfindungen mit ihm und überkommenen Zuständen, die teils
geachtet, teils gefürchtet werden. Macht und Recht auf Macht sind nicht
immer und überall in derselben Hand vereinigt. Der reiche Mann ist nicht
immer der weise Mann oder auch uur der gute Mann. Unsre Eltern und
Erzieher, zu denen wir in langen Kinderjahren verehrungsvoll emporsahen,
sind nicht immer wirklich jene Ideale, die wir nach errungener Klarheit und
erwachter Erkenntnis als die allein verehrungswürdigen anerkennen. Und so


Hermann Sudermanns Erzählungen

die sittlichen Werte und deren eindrucksvolle Betonung für ein edles und ver¬
nünftiges Menschentum stellen auch Hegel in die Reihe der erlauchten Geister,
von denen Goethe sagt:


Preiset die Würdigsten hoch! Wie herrlich leuchtende Sterne
streute sie ans die Natur durch den unendlichen Rain».



Hermann Sudermanns Erzählungen
Moritz Necker von

as erste folgenreiche Erlebnis jedes tiefer angelegten Menschen
nach erwachtem Selbstbewußtsein ist der Konflikt mit der Kon¬
vention, der Gegensatz, in den die Innerlichkeit mit ihren Träumen
und Idealen zu der sie umgebenden Gesellschaft gerät, die diesen
Idealen nicht entspricht. Das erlebt jedes tiefere Gemüt, das
gehört zu den Jugendkrankheiten des edleren, reicher angelegten Geistes, und
davon haben unzähligemale Dichter, Philosophen und Biographen berichtet.
Goethe tritt in die Litteratur mit Werthers Leiden ein: Werther ist kein Mann
der Gesellschaft; Schiller will mit seinen Räubern das tintenklecksende Säkulum
aus den Fugen treiben; der grüne Heinrich Gottfried Kellers gerät gar schon
in der Schule in Konflikt mit dem Lehrer, der sich den wunderlichen Knaben
nicht erklären kann; Byron ist wie Jean Jacques Rousseau sein ganzes Leben
in diesem 'Gegensatz stecken geblieben; Hebbels Maria Magdnlena hat dasselbe
Thema des Widerspruches zwischen Natur und Übereinkunft; und Schopenhauer
erklärt nicht mit Unrecht jeden Jüngling geradezu für einen Flachkopf, wenn
nicht für eine gemeine Natur, der diesen schicksalsvollen Konflikt mit der Gesell¬
schaft, in die er hineinzuwachsen hat, nicht erleben muß. Denn die wirklichen
Zustände der menschlichen Gemeinschaft stimmen mit den Forderungen eines
naiven Ideals niemals überein. Sie sind vielmehr das Ergebnis von Zu¬
geständnissen, Abfindungen mit ihm und überkommenen Zuständen, die teils
geachtet, teils gefürchtet werden. Macht und Recht auf Macht sind nicht
immer und überall in derselben Hand vereinigt. Der reiche Mann ist nicht
immer der weise Mann oder auch uur der gute Mann. Unsre Eltern und
Erzieher, zu denen wir in langen Kinderjahren verehrungsvoll emporsahen,
sind nicht immer wirklich jene Ideale, die wir nach errungener Klarheit und
erwachter Erkenntnis als die allein verehrungswürdigen anerkennen. Und so


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208350"/>
          <fw type="header" place="top"> Hermann Sudermanns Erzählungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1282" prev="#ID_1281"> die sittlichen Werte und deren eindrucksvolle Betonung für ein edles und ver¬<lb/>
nünftiges Menschentum stellen auch Hegel in die Reihe der erlauchten Geister,<lb/>
von denen Goethe sagt:</p><lb/>
          <quote> Preiset die Würdigsten hoch! Wie herrlich leuchtende Sterne<lb/>
streute sie ans die Natur durch den unendlichen Rain».</quote><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Hermann Sudermanns Erzählungen<lb/><note type="byline"> Moritz Necker</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1283" next="#ID_1284"> as erste folgenreiche Erlebnis jedes tiefer angelegten Menschen<lb/>
nach erwachtem Selbstbewußtsein ist der Konflikt mit der Kon¬<lb/>
vention, der Gegensatz, in den die Innerlichkeit mit ihren Träumen<lb/>
und Idealen zu der sie umgebenden Gesellschaft gerät, die diesen<lb/>
Idealen nicht entspricht. Das erlebt jedes tiefere Gemüt, das<lb/>
gehört zu den Jugendkrankheiten des edleren, reicher angelegten Geistes, und<lb/>
davon haben unzähligemale Dichter, Philosophen und Biographen berichtet.<lb/>
Goethe tritt in die Litteratur mit Werthers Leiden ein: Werther ist kein Mann<lb/>
der Gesellschaft; Schiller will mit seinen Räubern das tintenklecksende Säkulum<lb/>
aus den Fugen treiben; der grüne Heinrich Gottfried Kellers gerät gar schon<lb/>
in der Schule in Konflikt mit dem Lehrer, der sich den wunderlichen Knaben<lb/>
nicht erklären kann; Byron ist wie Jean Jacques Rousseau sein ganzes Leben<lb/>
in diesem 'Gegensatz stecken geblieben; Hebbels Maria Magdnlena hat dasselbe<lb/>
Thema des Widerspruches zwischen Natur und Übereinkunft; und Schopenhauer<lb/>
erklärt nicht mit Unrecht jeden Jüngling geradezu für einen Flachkopf, wenn<lb/>
nicht für eine gemeine Natur, der diesen schicksalsvollen Konflikt mit der Gesell¬<lb/>
schaft, in die er hineinzuwachsen hat, nicht erleben muß. Denn die wirklichen<lb/>
Zustände der menschlichen Gemeinschaft stimmen mit den Forderungen eines<lb/>
naiven Ideals niemals überein. Sie sind vielmehr das Ergebnis von Zu¬<lb/>
geständnissen, Abfindungen mit ihm und überkommenen Zuständen, die teils<lb/>
geachtet, teils gefürchtet werden. Macht und Recht auf Macht sind nicht<lb/>
immer und überall in derselben Hand vereinigt. Der reiche Mann ist nicht<lb/>
immer der weise Mann oder auch uur der gute Mann. Unsre Eltern und<lb/>
Erzieher, zu denen wir in langen Kinderjahren verehrungsvoll emporsahen,<lb/>
sind nicht immer wirklich jene Ideale, die wir nach errungener Klarheit und<lb/>
erwachter Erkenntnis als die allein verehrungswürdigen anerkennen.  Und so</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Hermann Sudermanns Erzählungen die sittlichen Werte und deren eindrucksvolle Betonung für ein edles und ver¬ nünftiges Menschentum stellen auch Hegel in die Reihe der erlauchten Geister, von denen Goethe sagt: Preiset die Würdigsten hoch! Wie herrlich leuchtende Sterne streute sie ans die Natur durch den unendlichen Rain». Hermann Sudermanns Erzählungen Moritz Necker von as erste folgenreiche Erlebnis jedes tiefer angelegten Menschen nach erwachtem Selbstbewußtsein ist der Konflikt mit der Kon¬ vention, der Gegensatz, in den die Innerlichkeit mit ihren Träumen und Idealen zu der sie umgebenden Gesellschaft gerät, die diesen Idealen nicht entspricht. Das erlebt jedes tiefere Gemüt, das gehört zu den Jugendkrankheiten des edleren, reicher angelegten Geistes, und davon haben unzähligemale Dichter, Philosophen und Biographen berichtet. Goethe tritt in die Litteratur mit Werthers Leiden ein: Werther ist kein Mann der Gesellschaft; Schiller will mit seinen Räubern das tintenklecksende Säkulum aus den Fugen treiben; der grüne Heinrich Gottfried Kellers gerät gar schon in der Schule in Konflikt mit dem Lehrer, der sich den wunderlichen Knaben nicht erklären kann; Byron ist wie Jean Jacques Rousseau sein ganzes Leben in diesem 'Gegensatz stecken geblieben; Hebbels Maria Magdnlena hat dasselbe Thema des Widerspruches zwischen Natur und Übereinkunft; und Schopenhauer erklärt nicht mit Unrecht jeden Jüngling geradezu für einen Flachkopf, wenn nicht für eine gemeine Natur, der diesen schicksalsvollen Konflikt mit der Gesell¬ schaft, in die er hineinzuwachsen hat, nicht erleben muß. Denn die wirklichen Zustände der menschlichen Gemeinschaft stimmen mit den Forderungen eines naiven Ideals niemals überein. Sie sind vielmehr das Ergebnis von Zu¬ geständnissen, Abfindungen mit ihm und überkommenen Zuständen, die teils geachtet, teils gefürchtet werden. Macht und Recht auf Macht sind nicht immer und überall in derselben Hand vereinigt. Der reiche Mann ist nicht immer der weise Mann oder auch uur der gute Mann. Unsre Eltern und Erzieher, zu denen wir in langen Kinderjahren verehrungsvoll emporsahen, sind nicht immer wirklich jene Ideale, die wir nach errungener Klarheit und erwachter Erkenntnis als die allein verehrungswürdigen anerkennen. Und so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/413>, abgerufen am 28.04.2024.