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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Würde es, ohne Gefahr, geohrfeigt zu werden, öffentlich wagen dürfen, Gambetta,
lediglich weil er leine künstlerischen oder Philosophischen Formen entwickelte, nnter
das Niveau der allgemeinen französischen Kultur zu setzen, wer würde Salisbury,
wer würde Gortschakoff als englische oder russische Halbbarbaren Perschreien, weil
sie keinen lebendig schaffenden Sinn für die Zwecke der schönen Künste an den Tag
gelegt haben?" Ja Nur Deutschen sind halt "so viel" gebildet, wie die Österreicher
sagen, bei uns dünkt sich nicht nur "jeder untergeordnete Litterat als eine geistige
Natur n, priori weit erhaben über alle staatlichen Vernfskräfte der Völker," sondern
auch -- der Musiklehrer glaubt eine Persönlichkeit wie Bismarck schulmeistern zu
dürfen, weil er als Privatmann einem Musiker, den der andre nicht für voll an¬
sieht, eine Aufmerksamkeit erwiesen hat.




Litteratur
Briefe von der Grenze. Ein sozialpolitisches Gedcmrenl'lib. Maqdclmrg, Albert Rathke,
18"0

Das Gedankenbild des ungenannten Verfassers unterscheidet sich von den Ro¬
manen ans Utopien, die neuerdings wieder Mode geworden sind, sehr zu seinem
Vorteil durch zweierlei. Erstens werden uns die Reformen, die der von der edelsten
Gesinnung beseelte Verfasser für wünschenswert hält, in ganz kleinem Maßstabe
vorgeführt. Der menschenfreundliche Fürst eines deutschen Kleinstaates, dessen
Hauptstadt den symbolischen Namen Nenstndt am Avenir erhält, hat sich mit einem
gleichgesinnten reichen Fabrikbesitzer und einem evangelischen Pfarrer in Verbindung
gesetzt, diese drei Männer werben Anhänger und rufen eine Reihe gemeinnütziger
Anstalten ins Leben von der Art, wie solche in Wirklichkeit hie und da schon vor¬
handen sind. Der Fabrikbesitzer führt bei sich die Gewinnbeteiligung der Arbeiter
und allerlei Wohlfahrtseinrichtungen ein, sodann werden eine Werkstatt für arbeits¬
lose Männer, ein großes Tapisseriegeschäft zur Verbesserung der Lage der Nadel-
arbeiterinnen und ein Warenhaus gegründet; endlich anch ein musterhaft einge¬
richtetes Hotel, dessen Angestellte Nieder Trinkgeld nehmen, noch sich von den
Gästen grob kommen lassen. Zweitens sucht der Verfasser die Ursache der herr¬
schenden Übel vorzugsweise in der Unsittlichkeit der den modernen Geschäftsverkehr
und die gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschenden Grundsätze und geht daher
vorzugsweise auf sittliche Erneuerung ans. Als Ideale schweben ihm vor einerseits
die Brüdergemeinde, anderseits eine Organisation der Bernfsstände, die an Schäffles
Ban der Gesellschaft erinnert. Mit der Hervorhebung- dieser Vorzüge haben wir
den Neformplcm des Verfassers schon kritisirt. Es ist eben die Frage, ob sich jene
Einrichtungen, die im einzelnen nicht allein ausführbar sind, sondern sich hie und
da schon bewährt haben, ganz allgemein und mit Ausschluß aller freien kapitalistischen
Unternehmungen werden durchführen lassen. Es ist auch die Frage, ob es die


Grenzboten III 1890 66
Litteratur

Würde es, ohne Gefahr, geohrfeigt zu werden, öffentlich wagen dürfen, Gambetta,
lediglich weil er leine künstlerischen oder Philosophischen Formen entwickelte, nnter
das Niveau der allgemeinen französischen Kultur zu setzen, wer würde Salisbury,
wer würde Gortschakoff als englische oder russische Halbbarbaren Perschreien, weil
sie keinen lebendig schaffenden Sinn für die Zwecke der schönen Künste an den Tag
gelegt haben?" Ja Nur Deutschen sind halt „so viel" gebildet, wie die Österreicher
sagen, bei uns dünkt sich nicht nur „jeder untergeordnete Litterat als eine geistige
Natur n, priori weit erhaben über alle staatlichen Vernfskräfte der Völker," sondern
auch — der Musiklehrer glaubt eine Persönlichkeit wie Bismarck schulmeistern zu
dürfen, weil er als Privatmann einem Musiker, den der andre nicht für voll an¬
sieht, eine Aufmerksamkeit erwiesen hat.




Litteratur
Briefe von der Grenze. Ein sozialpolitisches Gedcmrenl'lib. Maqdclmrg, Albert Rathke,
18»0

Das Gedankenbild des ungenannten Verfassers unterscheidet sich von den Ro¬
manen ans Utopien, die neuerdings wieder Mode geworden sind, sehr zu seinem
Vorteil durch zweierlei. Erstens werden uns die Reformen, die der von der edelsten
Gesinnung beseelte Verfasser für wünschenswert hält, in ganz kleinem Maßstabe
vorgeführt. Der menschenfreundliche Fürst eines deutschen Kleinstaates, dessen
Hauptstadt den symbolischen Namen Nenstndt am Avenir erhält, hat sich mit einem
gleichgesinnten reichen Fabrikbesitzer und einem evangelischen Pfarrer in Verbindung
gesetzt, diese drei Männer werben Anhänger und rufen eine Reihe gemeinnütziger
Anstalten ins Leben von der Art, wie solche in Wirklichkeit hie und da schon vor¬
handen sind. Der Fabrikbesitzer führt bei sich die Gewinnbeteiligung der Arbeiter
und allerlei Wohlfahrtseinrichtungen ein, sodann werden eine Werkstatt für arbeits¬
lose Männer, ein großes Tapisseriegeschäft zur Verbesserung der Lage der Nadel-
arbeiterinnen und ein Warenhaus gegründet; endlich anch ein musterhaft einge¬
richtetes Hotel, dessen Angestellte Nieder Trinkgeld nehmen, noch sich von den
Gästen grob kommen lassen. Zweitens sucht der Verfasser die Ursache der herr¬
schenden Übel vorzugsweise in der Unsittlichkeit der den modernen Geschäftsverkehr
und die gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschenden Grundsätze und geht daher
vorzugsweise auf sittliche Erneuerung ans. Als Ideale schweben ihm vor einerseits
die Brüdergemeinde, anderseits eine Organisation der Bernfsstände, die an Schäffles
Ban der Gesellschaft erinnert. Mit der Hervorhebung- dieser Vorzüge haben wir
den Neformplcm des Verfassers schon kritisirt. Es ist eben die Frage, ob sich jene
Einrichtungen, die im einzelnen nicht allein ausführbar sind, sondern sich hie und
da schon bewährt haben, ganz allgemein und mit Ausschluß aller freien kapitalistischen
Unternehmungen werden durchführen lassen. Es ist auch die Frage, ob es die


Grenzboten III 1890 66
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[0529] Litteratur Würde es, ohne Gefahr, geohrfeigt zu werden, öffentlich wagen dürfen, Gambetta, lediglich weil er leine künstlerischen oder Philosophischen Formen entwickelte, nnter das Niveau der allgemeinen französischen Kultur zu setzen, wer würde Salisbury, wer würde Gortschakoff als englische oder russische Halbbarbaren Perschreien, weil sie keinen lebendig schaffenden Sinn für die Zwecke der schönen Künste an den Tag gelegt haben?" Ja Nur Deutschen sind halt „so viel" gebildet, wie die Österreicher sagen, bei uns dünkt sich nicht nur „jeder untergeordnete Litterat als eine geistige Natur n, priori weit erhaben über alle staatlichen Vernfskräfte der Völker," sondern auch — der Musiklehrer glaubt eine Persönlichkeit wie Bismarck schulmeistern zu dürfen, weil er als Privatmann einem Musiker, den der andre nicht für voll an¬ sieht, eine Aufmerksamkeit erwiesen hat. Litteratur Briefe von der Grenze. Ein sozialpolitisches Gedcmrenl'lib. Maqdclmrg, Albert Rathke, 18»0 Das Gedankenbild des ungenannten Verfassers unterscheidet sich von den Ro¬ manen ans Utopien, die neuerdings wieder Mode geworden sind, sehr zu seinem Vorteil durch zweierlei. Erstens werden uns die Reformen, die der von der edelsten Gesinnung beseelte Verfasser für wünschenswert hält, in ganz kleinem Maßstabe vorgeführt. Der menschenfreundliche Fürst eines deutschen Kleinstaates, dessen Hauptstadt den symbolischen Namen Nenstndt am Avenir erhält, hat sich mit einem gleichgesinnten reichen Fabrikbesitzer und einem evangelischen Pfarrer in Verbindung gesetzt, diese drei Männer werben Anhänger und rufen eine Reihe gemeinnütziger Anstalten ins Leben von der Art, wie solche in Wirklichkeit hie und da schon vor¬ handen sind. Der Fabrikbesitzer führt bei sich die Gewinnbeteiligung der Arbeiter und allerlei Wohlfahrtseinrichtungen ein, sodann werden eine Werkstatt für arbeits¬ lose Männer, ein großes Tapisseriegeschäft zur Verbesserung der Lage der Nadel- arbeiterinnen und ein Warenhaus gegründet; endlich anch ein musterhaft einge¬ richtetes Hotel, dessen Angestellte Nieder Trinkgeld nehmen, noch sich von den Gästen grob kommen lassen. Zweitens sucht der Verfasser die Ursache der herr¬ schenden Übel vorzugsweise in der Unsittlichkeit der den modernen Geschäftsverkehr und die gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschenden Grundsätze und geht daher vorzugsweise auf sittliche Erneuerung ans. Als Ideale schweben ihm vor einerseits die Brüdergemeinde, anderseits eine Organisation der Bernfsstände, die an Schäffles Ban der Gesellschaft erinnert. Mit der Hervorhebung- dieser Vorzüge haben wir den Neformplcm des Verfassers schon kritisirt. Es ist eben die Frage, ob sich jene Einrichtungen, die im einzelnen nicht allein ausführbar sind, sondern sich hie und da schon bewährt haben, ganz allgemein und mit Ausschluß aller freien kapitalistischen Unternehmungen werden durchführen lassen. Es ist auch die Frage, ob es die Grenzboten III 1890 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/529>, abgerufen am 28.04.2024.