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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

der übrige Körper ruht, für das Gegenteil von zuträglich erklären. Endlich machen
sich die Radfahrer uur zu oft fehr lästig. Ein großer Teil dieser Brüderschaft
scheint aus jungen Leuten zu bestehen, die tagsüber an ein Schreibpult oder einen
Ladentisch gefesselt sind; da sausen denu in Dämmerung und Dunkelheit die "Stahl¬
räder" lautlos auf den nngepflasterten Wegen einher, Spaziergänger gefährdend,
Frauen und Kinder erschreckend. Mindestens müßte, so lange das Gehen noch
nicht völlig abgekommen ist, den Radfahrern auferlegt werden, Glöckchen, die durch
ununterbrochenes Läuten ihr Nahen ankündigen, und mit Nnbruch der Dunkelheit
Laternen anzubringen, wie jedes andre Fuhrwerk. Wir waren neulich in einer
mitteldeutschen Stadt Zeuge, wie ein Arbeiter, der einem Wngeu ausweiche" mußte,
in der Dunkelheit bei einem Haar uuter ein Fahrrad geraten wäre, und noch
angeschnauzt wurde, weil er das (kaum hörbare kurze) Glockenzeichen nicht beachtet
habe. Der Betroffene begnügte sich mit einer derben Antwort, bei einer weniger
verträglichen Bevölkerung würde der kühne Reiter wahrscheinlich uusciuft von seinem
erhabenen Sitze entfernt worden sein.

Wir sind keine Schwarzseher, überschätzen nicht die Gefahr, die in dem sich
heute so vielfältig breitmachenden Geckeutum, das auch in der sogenannten natura¬
listischen Litteratur eine große Rolle spielt, unzweifelhaft steckt. Wir erinnern uus,
daß in einer Zeit, wo Uhland seine Gedichte als eine zu geringe Gabe für dus
Vaterland, dem so herrlich große Opfer dargebracht worden, ansah, Offiziere sich
schnürten und wattirter, ein Modeherr sich uicht ohne jon-son sehen lassen konnte
und Clauren der gelesenste Schriftsteller war. Doch besteht ein Unterschied zwischen
damals und jetzt. Damals konnte die Welt glauben, sie dürfe nach einem Viertel-
jahrhttudert der furchtbarsten Erschütterungen, Kriege und Nöte sich in voller Sorg¬
losigkeit einer endlosen Friedenszeit erfreuen. So gut wird es der Gegenwart
nicht, und anderseits besser. Nach den großen Kämpfen und politischen Erfolgen
stehen wir den schwersten innern Fragen gegenüber, ohne doch die Gewähr der
Sicherheit von außen zu haben; dagegen ist jeder Kraft vergönnt, sich zu bethätigen,
ist wie nie zuvor der Anteil an den edelsten Genüssen ermöglicht. Da muß es
doch mit Trauer erfüllen, daß so viel Zeit und -- Ernst an Nichtigkeiten ver¬
schwendet, und die Freiheit nicht allein zu Politischen Gaukeleien, sondern auch zur
Einrichtung eines förmlichen Kultus der Roheit mißbraucht wird.




Litteratur
Verein zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe.
Ur. 28. 'Berlin, norddeutsche Buchdruckerei und Verlngsanstalt

Das vorliegende Heft enthält die Verhandlungen und Beschlüsse der achten
Kommission des Reichstages über den Gesetzentwurf, der die Abänderung der Ge¬
werbeordnung betrifft, und die NeichStagsbeschlüsse zu denk Gesetz über die Gewerbe-
gerichle, sowie eine kurze Anzeige der "deutschen Levnnlelinie in Hamburg." Die
Mitglieder des Vereins hegen bekanntlich ernste Bedenken gegen die beabsichtigte


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der übrige Körper ruht, für das Gegenteil von zuträglich erklären. Endlich machen
sich die Radfahrer uur zu oft fehr lästig. Ein großer Teil dieser Brüderschaft
scheint aus jungen Leuten zu bestehen, die tagsüber an ein Schreibpult oder einen
Ladentisch gefesselt sind; da sausen denu in Dämmerung und Dunkelheit die „Stahl¬
räder" lautlos auf den nngepflasterten Wegen einher, Spaziergänger gefährdend,
Frauen und Kinder erschreckend. Mindestens müßte, so lange das Gehen noch
nicht völlig abgekommen ist, den Radfahrern auferlegt werden, Glöckchen, die durch
ununterbrochenes Läuten ihr Nahen ankündigen, und mit Nnbruch der Dunkelheit
Laternen anzubringen, wie jedes andre Fuhrwerk. Wir waren neulich in einer
mitteldeutschen Stadt Zeuge, wie ein Arbeiter, der einem Wngeu ausweiche» mußte,
in der Dunkelheit bei einem Haar uuter ein Fahrrad geraten wäre, und noch
angeschnauzt wurde, weil er das (kaum hörbare kurze) Glockenzeichen nicht beachtet
habe. Der Betroffene begnügte sich mit einer derben Antwort, bei einer weniger
verträglichen Bevölkerung würde der kühne Reiter wahrscheinlich uusciuft von seinem
erhabenen Sitze entfernt worden sein.

Wir sind keine Schwarzseher, überschätzen nicht die Gefahr, die in dem sich
heute so vielfältig breitmachenden Geckeutum, das auch in der sogenannten natura¬
listischen Litteratur eine große Rolle spielt, unzweifelhaft steckt. Wir erinnern uus,
daß in einer Zeit, wo Uhland seine Gedichte als eine zu geringe Gabe für dus
Vaterland, dem so herrlich große Opfer dargebracht worden, ansah, Offiziere sich
schnürten und wattirter, ein Modeherr sich uicht ohne jon-son sehen lassen konnte
und Clauren der gelesenste Schriftsteller war. Doch besteht ein Unterschied zwischen
damals und jetzt. Damals konnte die Welt glauben, sie dürfe nach einem Viertel-
jahrhttudert der furchtbarsten Erschütterungen, Kriege und Nöte sich in voller Sorg¬
losigkeit einer endlosen Friedenszeit erfreuen. So gut wird es der Gegenwart
nicht, und anderseits besser. Nach den großen Kämpfen und politischen Erfolgen
stehen wir den schwersten innern Fragen gegenüber, ohne doch die Gewähr der
Sicherheit von außen zu haben; dagegen ist jeder Kraft vergönnt, sich zu bethätigen,
ist wie nie zuvor der Anteil an den edelsten Genüssen ermöglicht. Da muß es
doch mit Trauer erfüllen, daß so viel Zeit und — Ernst an Nichtigkeiten ver¬
schwendet, und die Freiheit nicht allein zu Politischen Gaukeleien, sondern auch zur
Einrichtung eines förmlichen Kultus der Roheit mißbraucht wird.




Litteratur
Verein zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe.
Ur. 28. 'Berlin, norddeutsche Buchdruckerei und Verlngsanstalt

Das vorliegende Heft enthält die Verhandlungen und Beschlüsse der achten
Kommission des Reichstages über den Gesetzentwurf, der die Abänderung der Ge¬
werbeordnung betrifft, und die NeichStagsbeschlüsse zu denk Gesetz über die Gewerbe-
gerichle, sowie eine kurze Anzeige der „deutschen Levnnlelinie in Hamburg." Die
Mitglieder des Vereins hegen bekanntlich ernste Bedenken gegen die beabsichtigte


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[0207] Litteratur der übrige Körper ruht, für das Gegenteil von zuträglich erklären. Endlich machen sich die Radfahrer uur zu oft fehr lästig. Ein großer Teil dieser Brüderschaft scheint aus jungen Leuten zu bestehen, die tagsüber an ein Schreibpult oder einen Ladentisch gefesselt sind; da sausen denu in Dämmerung und Dunkelheit die „Stahl¬ räder" lautlos auf den nngepflasterten Wegen einher, Spaziergänger gefährdend, Frauen und Kinder erschreckend. Mindestens müßte, so lange das Gehen noch nicht völlig abgekommen ist, den Radfahrern auferlegt werden, Glöckchen, die durch ununterbrochenes Läuten ihr Nahen ankündigen, und mit Nnbruch der Dunkelheit Laternen anzubringen, wie jedes andre Fuhrwerk. Wir waren neulich in einer mitteldeutschen Stadt Zeuge, wie ein Arbeiter, der einem Wngeu ausweiche» mußte, in der Dunkelheit bei einem Haar uuter ein Fahrrad geraten wäre, und noch angeschnauzt wurde, weil er das (kaum hörbare kurze) Glockenzeichen nicht beachtet habe. Der Betroffene begnügte sich mit einer derben Antwort, bei einer weniger verträglichen Bevölkerung würde der kühne Reiter wahrscheinlich uusciuft von seinem erhabenen Sitze entfernt worden sein. Wir sind keine Schwarzseher, überschätzen nicht die Gefahr, die in dem sich heute so vielfältig breitmachenden Geckeutum, das auch in der sogenannten natura¬ listischen Litteratur eine große Rolle spielt, unzweifelhaft steckt. Wir erinnern uus, daß in einer Zeit, wo Uhland seine Gedichte als eine zu geringe Gabe für dus Vaterland, dem so herrlich große Opfer dargebracht worden, ansah, Offiziere sich schnürten und wattirter, ein Modeherr sich uicht ohne jon-son sehen lassen konnte und Clauren der gelesenste Schriftsteller war. Doch besteht ein Unterschied zwischen damals und jetzt. Damals konnte die Welt glauben, sie dürfe nach einem Viertel- jahrhttudert der furchtbarsten Erschütterungen, Kriege und Nöte sich in voller Sorg¬ losigkeit einer endlosen Friedenszeit erfreuen. So gut wird es der Gegenwart nicht, und anderseits besser. Nach den großen Kämpfen und politischen Erfolgen stehen wir den schwersten innern Fragen gegenüber, ohne doch die Gewähr der Sicherheit von außen zu haben; dagegen ist jeder Kraft vergönnt, sich zu bethätigen, ist wie nie zuvor der Anteil an den edelsten Genüssen ermöglicht. Da muß es doch mit Trauer erfüllen, daß so viel Zeit und — Ernst an Nichtigkeiten ver¬ schwendet, und die Freiheit nicht allein zu Politischen Gaukeleien, sondern auch zur Einrichtung eines förmlichen Kultus der Roheit mißbraucht wird. Litteratur Verein zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe. Ur. 28. 'Berlin, norddeutsche Buchdruckerei und Verlngsanstalt Das vorliegende Heft enthält die Verhandlungen und Beschlüsse der achten Kommission des Reichstages über den Gesetzentwurf, der die Abänderung der Ge¬ werbeordnung betrifft, und die NeichStagsbeschlüsse zu denk Gesetz über die Gewerbe- gerichle, sowie eine kurze Anzeige der „deutschen Levnnlelinie in Hamburg." Die Mitglieder des Vereins hegen bekanntlich ernste Bedenken gegen die beabsichtigte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/207>, abgerufen am 27.04.2024.