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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

die ihn vielleicht in Paris kennen gelernt haben, ahmen ihm jetzt schon nach,
und im nächsten Jahre wird es eine ganze Schule geben, die das Heil der
Malerei darin sieht, daß man nackte Körper, unter dem Vorgeben, die Reflexe
des Lichts darauf aufzufangen, mit allen Farben des Spektrnms anstreicht.

Die Weltgeschichte gefällt sich häufiger in Gegensätzen als in Analogien.
Als vor hundert Jahren die nutvkratische Monarchie den ersten Stoß erhielt,
von dem sie sich uicht wieder erholt hat, erwuchs in Frankreich unter dem
Schutze der bürgerlichen Demokratie, die vor dem Blute eines Königs nicht
zurückgeschreckt war, eine feierlich ernste, von den strengsten Gesetzen des Eben¬
maßes und der akademischen Regel beherrschte Kunst. Davids sorgfältig
kostümirte Römer mit ihrem edeln theatralischen Anstand stehen im schroffsten
Gegensatze zu den borstigen Sansculotten, die die politischen Geschicke Frank¬
reichs schufen und leiteten. In unsrer Zeit, wo der Bestand der großen
europäischen Monarchien wie der der französischen Republik durch eine bisher
ohne Beispiel gewesene Macht von Kanonen und Bajonetten gesichert erscheint,
übernimmt die Kunst die Rolle der Revolution. An allem Bestehenden wird
gerüttelt, was Jahrhunderte lang in Geltung war, wird für Irrtum, Lüge
und Heuchelei erklärt, mau läuft Sturm gegen Akademien, Universitäten und
Museen, man will wie vor hundert Jahren nichts als die Natur, die ursprüng¬
liche, unverfälschte Natur, und jeder dieser schwärmenden und stürmenden
Geister macht sich von seinem Götzen ein eignes Bild. Aber dieses Bild
spiegelt nur die wirren Gespinste seines Hirns wieder; mit der großen, ewigen
Mutter alles Seins und Werdens hat es nichts zu schaffen.




Skizzen aus unserm deutigen Volksleben
20. Höhere Musik

obere Musik ist im Grunde genommen solche, die von den höher"
Ständen gemacht wird. Jedermann wird mir zugeben, daß ein
Konzert, das der Mvritzkantor veranstaltet, und eins, dem der Herr
Musikdirektor die musikalische Weihe giebt, ganz verschiedne Dinge
sind, selbst wenn hier wie da dieselbe Schöpfung oder dasselbe
Requiem aufgeführt würde. Doktor Wünsche behauptet zwar in
seiner etwas "abstrakten" Weise: Musik sei Musik; aber ebensogut könnte man sagen:
Kaffee sei Kaffee, oder Rotwein sei Rotwein. Trinke doch einer Rotwein ans


Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

die ihn vielleicht in Paris kennen gelernt haben, ahmen ihm jetzt schon nach,
und im nächsten Jahre wird es eine ganze Schule geben, die das Heil der
Malerei darin sieht, daß man nackte Körper, unter dem Vorgeben, die Reflexe
des Lichts darauf aufzufangen, mit allen Farben des Spektrnms anstreicht.

Die Weltgeschichte gefällt sich häufiger in Gegensätzen als in Analogien.
Als vor hundert Jahren die nutvkratische Monarchie den ersten Stoß erhielt,
von dem sie sich uicht wieder erholt hat, erwuchs in Frankreich unter dem
Schutze der bürgerlichen Demokratie, die vor dem Blute eines Königs nicht
zurückgeschreckt war, eine feierlich ernste, von den strengsten Gesetzen des Eben¬
maßes und der akademischen Regel beherrschte Kunst. Davids sorgfältig
kostümirte Römer mit ihrem edeln theatralischen Anstand stehen im schroffsten
Gegensatze zu den borstigen Sansculotten, die die politischen Geschicke Frank¬
reichs schufen und leiteten. In unsrer Zeit, wo der Bestand der großen
europäischen Monarchien wie der der französischen Republik durch eine bisher
ohne Beispiel gewesene Macht von Kanonen und Bajonetten gesichert erscheint,
übernimmt die Kunst die Rolle der Revolution. An allem Bestehenden wird
gerüttelt, was Jahrhunderte lang in Geltung war, wird für Irrtum, Lüge
und Heuchelei erklärt, mau läuft Sturm gegen Akademien, Universitäten und
Museen, man will wie vor hundert Jahren nichts als die Natur, die ursprüng¬
liche, unverfälschte Natur, und jeder dieser schwärmenden und stürmenden
Geister macht sich von seinem Götzen ein eignes Bild. Aber dieses Bild
spiegelt nur die wirren Gespinste seines Hirns wieder; mit der großen, ewigen
Mutter alles Seins und Werdens hat es nichts zu schaffen.




Skizzen aus unserm deutigen Volksleben
20. Höhere Musik

obere Musik ist im Grunde genommen solche, die von den höher«
Ständen gemacht wird. Jedermann wird mir zugeben, daß ein
Konzert, das der Mvritzkantor veranstaltet, und eins, dem der Herr
Musikdirektor die musikalische Weihe giebt, ganz verschiedne Dinge
sind, selbst wenn hier wie da dieselbe Schöpfung oder dasselbe
Requiem aufgeführt würde. Doktor Wünsche behauptet zwar in
seiner etwas „abstrakten" Weise: Musik sei Musik; aber ebensogut könnte man sagen:
Kaffee sei Kaffee, oder Rotwein sei Rotwein. Trinke doch einer Rotwein ans


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/40>, abgerufen am 27.04.2024.