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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Kindes

cis Werden der Seele zu ergründen, diese gewaltige Aufgabe
stellte sich Professur Preyer, als er sich der unendlich mühselige",
wenn auch durch den Gegenstand versüßten Arbeit unterzog, das
Benehmen seines Söhnchens in den ersten tausend Lebenstagen,
seine Muskelübungen und Empfindliugsäußeruugen, die allmähliche
Entwicklung jedes seiner fünf Sinne, seines Willens und seines Verstandes,
endlich sein Sprechenlernen genau zu beobachten und jede beobachtete Thatsache
sorgfältig aufzuzeichnen.^) Was andre ihm um Beiträgen geliefert haben, ist im
Vergleich zu dem, was er selbst an diesem studirtesten aller Knaben wahr¬
genommen hat, unbedeutend zu nennen. Tiere werden fleißig zur Vergleichung
herangezogen, und für die Darstellung der Spracherlernung die an Taubstummen
und Blödsinnigen gemachten Wahrnehmungen benutzt.

Die Gvldbereitung zu erfinden, haben sich Tausende von Alchimisten ab¬
gemüht, und schließlich fand einer von ihnen die weit nützlichere Porzellau-
bereituug. So ungefähr geht es den MetaPhysikern, zu denen auch die mo¬
dernen Naturforscher, so sehr sie sich gegen die Bezeichnung sträuben mögen,
gehören z auf die Erforschung des Unerforschlichen gehen sie ans, aber unter¬
wegs fördern sie viel nützliche Dinge zu Tage. Es versteht sich, daß ans
Prehers Vnche für die leibliche Behandlung und Pflege der kleinen Kinder
allerlei zu lernen ist, das herauszusuchen wir den Müttern und Vätern über¬
lassen. Was die Pädagogik anlangt, die sich von einem solchen Werke Nutzen
versprechen darf, so sagt der Verfasser im Borwort zur dritten Auflage: "Die
freundliche Aufnahme eines so umfangreichen Werkes bei Gelehrten und Umge¬
kehrten in Deutschland, und die weite Verbreitung, welche seine Übersetzungen
gefunden haben, sind zugleich eine Gewähr für das Durchdringen der Er¬
kenntnis, daß die Psychogenesis (Seelenwerduug) die notwendige Grundlage
der Pädagogik bildet. Ohne das Studium der Seeleneutwicklung des kleinen
Kindes kaun die Erziehung und Uuterrichtskuust nicht auf festem Boden be¬
gründet werden. Aber an sich ist dieses Buch uicht pädagogisch, so viele dem



*) Die Seele des Kindes. Beobachtungen Wer die geistige Entwicklung des Menschen
in den ersten Lebensjahren. Bon W. Preyer in Berlin. Dritte, vermehrte Auslage.
Leipzig, Th. Grieben, 1800.


Die Seele des Kindes

cis Werden der Seele zu ergründen, diese gewaltige Aufgabe
stellte sich Professur Preyer, als er sich der unendlich mühselige»,
wenn auch durch den Gegenstand versüßten Arbeit unterzog, das
Benehmen seines Söhnchens in den ersten tausend Lebenstagen,
seine Muskelübungen und Empfindliugsäußeruugen, die allmähliche
Entwicklung jedes seiner fünf Sinne, seines Willens und seines Verstandes,
endlich sein Sprechenlernen genau zu beobachten und jede beobachtete Thatsache
sorgfältig aufzuzeichnen.^) Was andre ihm um Beiträgen geliefert haben, ist im
Vergleich zu dem, was er selbst an diesem studirtesten aller Knaben wahr¬
genommen hat, unbedeutend zu nennen. Tiere werden fleißig zur Vergleichung
herangezogen, und für die Darstellung der Spracherlernung die an Taubstummen
und Blödsinnigen gemachten Wahrnehmungen benutzt.

Die Gvldbereitung zu erfinden, haben sich Tausende von Alchimisten ab¬
gemüht, und schließlich fand einer von ihnen die weit nützlichere Porzellau-
bereituug. So ungefähr geht es den MetaPhysikern, zu denen auch die mo¬
dernen Naturforscher, so sehr sie sich gegen die Bezeichnung sträuben mögen,
gehören z auf die Erforschung des Unerforschlichen gehen sie ans, aber unter¬
wegs fördern sie viel nützliche Dinge zu Tage. Es versteht sich, daß ans
Prehers Vnche für die leibliche Behandlung und Pflege der kleinen Kinder
allerlei zu lernen ist, das herauszusuchen wir den Müttern und Vätern über¬
lassen. Was die Pädagogik anlangt, die sich von einem solchen Werke Nutzen
versprechen darf, so sagt der Verfasser im Borwort zur dritten Auflage: „Die
freundliche Aufnahme eines so umfangreichen Werkes bei Gelehrten und Umge¬
kehrten in Deutschland, und die weite Verbreitung, welche seine Übersetzungen
gefunden haben, sind zugleich eine Gewähr für das Durchdringen der Er¬
kenntnis, daß die Psychogenesis (Seelenwerduug) die notwendige Grundlage
der Pädagogik bildet. Ohne das Studium der Seeleneutwicklung des kleinen
Kindes kaun die Erziehung und Uuterrichtskuust nicht auf festem Boden be¬
gründet werden. Aber an sich ist dieses Buch uicht pädagogisch, so viele dem



*) Die Seele des Kindes. Beobachtungen Wer die geistige Entwicklung des Menschen
in den ersten Lebensjahren. Bon W. Preyer in Berlin. Dritte, vermehrte Auslage.
Leipzig, Th. Grieben, 1800.
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[0463] [Abbildung] Die Seele des Kindes cis Werden der Seele zu ergründen, diese gewaltige Aufgabe stellte sich Professur Preyer, als er sich der unendlich mühselige», wenn auch durch den Gegenstand versüßten Arbeit unterzog, das Benehmen seines Söhnchens in den ersten tausend Lebenstagen, seine Muskelübungen und Empfindliugsäußeruugen, die allmähliche Entwicklung jedes seiner fünf Sinne, seines Willens und seines Verstandes, endlich sein Sprechenlernen genau zu beobachten und jede beobachtete Thatsache sorgfältig aufzuzeichnen.^) Was andre ihm um Beiträgen geliefert haben, ist im Vergleich zu dem, was er selbst an diesem studirtesten aller Knaben wahr¬ genommen hat, unbedeutend zu nennen. Tiere werden fleißig zur Vergleichung herangezogen, und für die Darstellung der Spracherlernung die an Taubstummen und Blödsinnigen gemachten Wahrnehmungen benutzt. Die Gvldbereitung zu erfinden, haben sich Tausende von Alchimisten ab¬ gemüht, und schließlich fand einer von ihnen die weit nützlichere Porzellau- bereituug. So ungefähr geht es den MetaPhysikern, zu denen auch die mo¬ dernen Naturforscher, so sehr sie sich gegen die Bezeichnung sträuben mögen, gehören z auf die Erforschung des Unerforschlichen gehen sie ans, aber unter¬ wegs fördern sie viel nützliche Dinge zu Tage. Es versteht sich, daß ans Prehers Vnche für die leibliche Behandlung und Pflege der kleinen Kinder allerlei zu lernen ist, das herauszusuchen wir den Müttern und Vätern über¬ lassen. Was die Pädagogik anlangt, die sich von einem solchen Werke Nutzen versprechen darf, so sagt der Verfasser im Borwort zur dritten Auflage: „Die freundliche Aufnahme eines so umfangreichen Werkes bei Gelehrten und Umge¬ kehrten in Deutschland, und die weite Verbreitung, welche seine Übersetzungen gefunden haben, sind zugleich eine Gewähr für das Durchdringen der Er¬ kenntnis, daß die Psychogenesis (Seelenwerduug) die notwendige Grundlage der Pädagogik bildet. Ohne das Studium der Seeleneutwicklung des kleinen Kindes kaun die Erziehung und Uuterrichtskuust nicht auf festem Boden be¬ gründet werden. Aber an sich ist dieses Buch uicht pädagogisch, so viele dem *) Die Seele des Kindes. Beobachtungen Wer die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren. Bon W. Preyer in Berlin. Dritte, vermehrte Auslage. Leipzig, Th. Grieben, 1800.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/463>, abgerufen am 27.04.2024.