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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

wie die Einbildung entstehen konnte, es fehle den Dentschen an Nntionalgefühl.
Die ins römische Reich eingewanderten Stämme konnten ihr Volkstum unmöglich
behaupten, weil sie nicht kolcmienweise beisammen blieben, sondern sich als Feudal¬
herren übers Land zerstreuten, und weil sie Analphabeten waren, demnach ihre
Sprache den Nachkommen nicht schriftlich überliefern konnten, anch gezwungen waren,
sich bei der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und im Gottesdienste der römischen
oder romanische:: Sprache zu bedienen, wahrend die spätern Auswanderer, wie die
Juden von jeher gethan haben, ihr Schrifttum mitnahmen. Sollten sich deutsche
Auswanderer der letzten beiden Jahrhunderte schlechter gehalten haben, so wäre
das gar nicht zu verwundern. Denn erstens wurde in der Zeit des Absolutismus
die persönliche Selbständigkeit des Bürgers, der um nicht mehr Bürger, sondern
Unterthan war, gebrochen, und damit seine Widerstandskraft in allen Stücken, also
auch in nationaler Beziehung geschwächt. Zweitens ging den Deutschen in der
Kleinstaaterei der Begriff des Vaterlandes und Volkstums umso mehr verloren,
als die deutschen Fürsten einander im Bunde mit auswärtigen Mächten unauf¬
hörlich bekriegten. Drittens waren deutsche Sprache und Litteratur an deu Fürsten-
Höfen dermaßen verpönt, daß für einen Gebildeten schon einiger Mut dazu ge¬
hörte, sich ihrer nicht zu schämen. Wie wäre unter solchen Umständen nationaler
Sinn anch nur möglich gewesen? Seit 1800, 1814, 1848 und 1870 sind ja
nun diese drei Übelstände stoßweise teils eingeschränkt teils beseitigt worden, und
in Nord- und Südamerika wenigstens halten jetzt die Dentschen sehr gut zusammen.
Man könnte allerdings glauben, der fragliche Mangel sei die unvermeidliche Kehr¬
seite des entsprechenden Vorwurfs, aber es ist, wie die Geschichte beweist, that¬
sächlich uicht der Fall. Wo sich der nationale Sinn der Dentschen schwach zeigt,
da ist nicht eine ursprüngliche Eigentümlichkeit des Volkes, sondern ein Zusammen¬
wirken vorübergehender Einflüsse daran schuld.




Litteratur
Handbuch der Waffenkunde. Das Waffenwesen in seiner Menschen Entwicklung vom
Beginn des Mittelalters bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Bon Wendelin
Voeheim, Kustos der Waffensammlung des österreichischen Kaiserhauses. Leipzig, E. A. See-
' manu, 1390

Die Sammlung kunstgewerblicher Handbücher, die in Seemanns Verlag er¬
scheint, hat mit Boeheims Arbeit eine dankenswerte Bereicherung erfahren. Wir
verfügen zwar über eine ansehnliche Zahl von Monographien, die einzelne Zweige
des Waffenwesens mit wissenschaftlicher Gründlichkeit behandeln, ein zusammen¬
fassendes Handbuch der Wnffenkunde jedoch, wie es die Franzosen und die Eng¬
länder besitzen, hatten wir bisher nicht auszuweisen. Vielleicht hat die Schwierigkeit
oder Unmöglichkeit, ein so ausgedehntes Forschungsgebiet völlig zu beherrschen, und
die Seltenheit oder Unzugänglichkeit vieler Schutz- und Trutzwaffen vergangner
Zeiten die deutschen Gelehrten von einer solchen alle Gebiete umfassenden Dar-


Litteratur

wie die Einbildung entstehen konnte, es fehle den Dentschen an Nntionalgefühl.
Die ins römische Reich eingewanderten Stämme konnten ihr Volkstum unmöglich
behaupten, weil sie nicht kolcmienweise beisammen blieben, sondern sich als Feudal¬
herren übers Land zerstreuten, und weil sie Analphabeten waren, demnach ihre
Sprache den Nachkommen nicht schriftlich überliefern konnten, anch gezwungen waren,
sich bei der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und im Gottesdienste der römischen
oder romanische:: Sprache zu bedienen, wahrend die spätern Auswanderer, wie die
Juden von jeher gethan haben, ihr Schrifttum mitnahmen. Sollten sich deutsche
Auswanderer der letzten beiden Jahrhunderte schlechter gehalten haben, so wäre
das gar nicht zu verwundern. Denn erstens wurde in der Zeit des Absolutismus
die persönliche Selbständigkeit des Bürgers, der um nicht mehr Bürger, sondern
Unterthan war, gebrochen, und damit seine Widerstandskraft in allen Stücken, also
auch in nationaler Beziehung geschwächt. Zweitens ging den Deutschen in der
Kleinstaaterei der Begriff des Vaterlandes und Volkstums umso mehr verloren,
als die deutschen Fürsten einander im Bunde mit auswärtigen Mächten unauf¬
hörlich bekriegten. Drittens waren deutsche Sprache und Litteratur an deu Fürsten-
Höfen dermaßen verpönt, daß für einen Gebildeten schon einiger Mut dazu ge¬
hörte, sich ihrer nicht zu schämen. Wie wäre unter solchen Umständen nationaler
Sinn anch nur möglich gewesen? Seit 1800, 1814, 1848 und 1870 sind ja
nun diese drei Übelstände stoßweise teils eingeschränkt teils beseitigt worden, und
in Nord- und Südamerika wenigstens halten jetzt die Dentschen sehr gut zusammen.
Man könnte allerdings glauben, der fragliche Mangel sei die unvermeidliche Kehr¬
seite des entsprechenden Vorwurfs, aber es ist, wie die Geschichte beweist, that¬
sächlich uicht der Fall. Wo sich der nationale Sinn der Dentschen schwach zeigt,
da ist nicht eine ursprüngliche Eigentümlichkeit des Volkes, sondern ein Zusammen¬
wirken vorübergehender Einflüsse daran schuld.




Litteratur
Handbuch der Waffenkunde. Das Waffenwesen in seiner Menschen Entwicklung vom
Beginn des Mittelalters bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Bon Wendelin
Voeheim, Kustos der Waffensammlung des österreichischen Kaiserhauses. Leipzig, E. A. See-
' manu, 1390

Die Sammlung kunstgewerblicher Handbücher, die in Seemanns Verlag er¬
scheint, hat mit Boeheims Arbeit eine dankenswerte Bereicherung erfahren. Wir
verfügen zwar über eine ansehnliche Zahl von Monographien, die einzelne Zweige
des Waffenwesens mit wissenschaftlicher Gründlichkeit behandeln, ein zusammen¬
fassendes Handbuch der Wnffenkunde jedoch, wie es die Franzosen und die Eng¬
länder besitzen, hatten wir bisher nicht auszuweisen. Vielleicht hat die Schwierigkeit
oder Unmöglichkeit, ein so ausgedehntes Forschungsgebiet völlig zu beherrschen, und
die Seltenheit oder Unzugänglichkeit vieler Schutz- und Trutzwaffen vergangner
Zeiten die deutschen Gelehrten von einer solchen alle Gebiete umfassenden Dar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/642>, abgerufen am 28.04.2024.